Erdoğan kündigt Karriereende an – und will sich für Frieden in der Ukraine einsetzen

In der Türkei wird es spätestens 2028 einen neuen Präsidenten geben. Nach mehr als 20 Jahren wird AKP-Gründer Recep Tayyip Erdoğan nicht mehr für eine weitere politische Funktion zur Verfügung stehen. Sein letztes großes Ziel sind Friedensverhandlungen für die Ukraine.
Recep Tayyip Erdogan (r), Präsident der Türkei, gibt Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, am Ende einer gemeinsamen Pressekonferenz nach ihrem Treffen im Dolmabahce-Palast, die Hand.
Recep Tayyip Erdoğan (r.), Präsident der Türkei, gibt Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, am Ende einer gemeinsamen Pressekonferenz nach ihrem Treffen im Dolmabahce-Palast, die Hand.Foto: Francisco Seco/AP/dpa
Von 9. März 2024

Nach mehr als 20 Jahren geht in der Türkei eine Ära zu Ende. Von 2003 bis 2014 als Premierminister und seither als Präsident hat Recep Tayyip Erdoğan die Geschicke des Landes gelenkt. Am Freitag, 8. März, erklärte er in einer Versammlung der Vereinigung junger Türken (TÜGVA): Die bevorstehenden Kommunalwahlen „sind meine letzten“.

„Ich arbeite ununterbrochen. Wir rennen atemlos umher, weil es für mich ein Finale ist“, zitiert die Nachrichtenagentur „Anadolu“ den Präsidenten. „Gemäß dem mir vom Gesetz verliehenen Mandat ist dies meine letzte Wahl. Das Ergebnis wird meinen Geschwistern, die nach mir kommen, ein Vermächtnis hinterlassen.“

AKP will OB-Posten in Istanbul zurückerobern – neuer CHP-Chef bestreitet erste Wahlen

Am 31. März werden landesweit die Städte und Bezirke ihre Oberhäupter wählen und ihre kommunalen Vertretungen neu bestücken. Die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) ist mit 742 Bürgermeistern und 10.173 Kommunalvertretern die mit Abstand führende Kraft des Landes.

Als größte Oppositionspartei kommt die Republikanische Volkspartei (CHP) auf 240 Bürgermeister und 4.613 Kommunalvertreter. Für sie geht es vor allem darum, den 2019 eroberten Sitz des Oberbürgermeisters von Istanbul zu verteidigen. Dieser gilt als besonders prestigeträchtig – und Amtsinhaber Ekrem Imamoğlu ist der erste CHP-Politiker seit 1980, der das Amt innehat. Für die AKP geht der von 2018 bis 2023 amtierende Umwelt- und Stadtentwicklungsminister Murat Kurum ins Rennen.

Eine erste Feuerprobe werden die Kommunalwahlen auch für Özgür Özel. Der Pharmazeut und Vizepräsident der Sozialistischen Internationale hat im November 2023 die Parteiführung der CHP übernommen. Diese führte zuvor 13 Jahre lang der Sozialversicherungsfachmann Kemal Kılıçdaroğlu an. Seine Amtszeit war von einer Serie von Wahlniederlagen geprägt – im Vorjahr verlor er die Stichwahl um das Präsidentenamt gegen Erdoğan.

Hakan Fidan und Hulusi Akar gelten als Favoriten für Nachfolge

Der 70-jährige Erdoğan ließ offen, ob er seine volle Amtszeit noch bis 2028 ausführt oder bereits zuvor sein Amt abgeben wird. Sein Vizepräsident ist der frühere Entwicklungsminister Cevdet Yılmaz. Allerdings erscheint es als unwahrscheinlich, dass dieser langfristig das politische Erbe Erdoğans antreten wird.

Was dies betrifft, gelten eher Persönlichkeiten wie der Außenminister und langjährige Geheimdienstchef Hakan Fidan oder der frühere Generalstabschef Hulusi Akar als Favoriten. Es ist jedoch auch möglich, dass bis 2028 eine neue politische Formation aus dem Bündnis zwischen der AKP und mehreren Parteien der nationalistischen Idealistenbewegung entsteht. Bei den Präsidentschaftswahlen im Vorjahr erzielte der Ökonom Sinan Oğan einen Achtungserfolg. Seine Wahlempfehlung für Erdoğan trug zur Entscheidung in der Stichwahl bei. Es erscheint als denkbar, dass er politisch auch künftig in der Türkei eine Rolle spielen wird.

Derweil mehren sich die Anzeichen dafür, dass ein Friedensschluss in der Ukraine zu den letzten großen Ambitionen von Präsident Erdoğan auf internationaler Bühne gehört. Am Freitag hatte er seinen ukrainischen Amtskollegen Wolodymyr Selenskyj in Istanbul empfangen.

Erdoğan bietet Friedensgespräche unter Einbeziehung Russlands an

Die Türkei, die sich im Ukraine-Konflikt auf die Seite Kiews stellt, sich aber nicht an Sanktionen gegen Russland beteiligt, hatte seit Kriegsbeginn mehrere diplomatische Initiativen in Gang gesetzt. Darunter waren Friedensgespräche unmittelbar nach Beginn der russischen Militäroperation und Verhandlungen über den Transport von Getreide durch das Schwarze Meer.

Erdoğan machte auch am Freitag deutlich, dass er eine Neubelebung dieser Formate wünsche. Er trat für Gespräche unter Einschluss Russlands ein – während die Ukraine und ihre westlichen Verbündeten lediglich über eine „Friedensformel“ zu Kiews Bedingungen reden wollen.

Auf einer Pressekonferenz im Anschluss an das Treffen mit Selenskyj äußerte der türkische Präsident:

„Wir haben von Anfang an so viel wie möglich dazu beigetragen, den Krieg durch Verhandlungen zu beenden. Wir sind auch bereit, einen Friedensgipfel auszurichten, an dem auch Russland beteiligt sein wird.“

Er hoffe, dass der Kreml das türkische Angebot annehmen werde.

Tiefgreifende Liberalisierung und Wirtschaftsaufschwung prägten die 2000er-Jahre

Erdoğan hat seit seiner Wahl zum Premierminister im Jahr 2003 die Türkei in tiefgreifender Weise verändert – und auch ihre internationale Rolle neu definiert. Im Jahr 2001 gründete der zuvor langjährige Protagonist der Milli-Görüş-Bewegung von Necmettin Erbakan mit reformorientierten Weggefährten die AKP.

Diese begann ihren politischen Weg als Sammelbewegung von zuvor marginalisierten religiösen Muslimen sowie Angehörigen von Minderheiten, die einer strikten Assimilationspolitik ausgesetzt waren. Die Unzufriedenheit mit den kemalistischen politischen Eliten und die Zehn-Prozent-Hürde, die 2002 nur noch zwei Parteien überschreiten konnten, brachten die AKP an die Regierung.

In den 2000er-Jahren stand die Politik Erdoğans im Zeichen tiefgreifender Reformen. Der EU-Beitrittsprozess, der 2005 offiziell begonnen hatte, ermöglichte es der AKP, bisherige politische Tabus zu brechen. Erdoğan leitete das Ende von Kopftuchverboten für muslimische Frauen ebenso ein wie eine Ausweitung des Rechts von Minderheiten, ihre Sprache zu verwenden.

Wirtschaftliche Reformen hatten einen Aufschwung in der Türkei zur Folge, ab 2006 wies das Land sogar gegenüber Deutschland einen positiven Wanderungssaldo auf. Es verlegten über mehrere Jahre hinweg mehr Menschen ihren Lebensmittelpunkt von Deutschland in die Türkei als umgekehrt.

Politik der Türkei unter Erdoğan im Laufe der 2010er-Jahre wieder von Härte geprägt

Der sogenannte Ergenekon-Prozess ermöglichte es Erdoğan zudem Ende der 2000er-Jahre, die bis dahin geltende faktische Vormundschaft der Armee über die politischen Prozesse des Landes zu brechen.

Im Verlaufe der 2010er-Jahre kehrte jedoch eine stärkere autoritäre Note in den politischen Alltag des Landes zurück. Anlass dafür waren neben dem Bürgerkrieg im Nachbarland Syrien auch innenpolitische Herausforderungen. Im Jahr 2013 kam es zu Unruhen rund um ein geplantes Bauprojekt im Istanbuler Gezi-Park. Erdoğan nahm dieses als einen vom Westen gesteuerten Versuch wahr, eine sogenannte Farbrevolution in der Türkei zu inszenieren.

Wenige Monate später kam es zum Bruch mit der Gülen-Bewegung, die zuvor einen bedeutenden Anteil am politischen und wirtschaftlichen Reformkurs gehabt hatte. Korruptionsermittlungen gegen führende Politiker des Landes wertete die AKP als Versuch eines Staatsstreichs. Sie warf der im Staatsapparat und der Justiz bedeutend gewordenen prowestlichen Islambewegung vor, einen „Parallelstaat“ aufgebaut zu haben.

Erdoğan erklärte die Gülen-Gemeinde zu Terroristen und veranlasste tiefgreifende Säuberungen im Staatsapparat. Das Scheitern eines 2013 begonnenen Friedensprozesses mit der terroristischen PKK und ein Putschversuch von Teilen des Militärs im Jahr 2016 hatten eine weitere Politik der Härte zur Folge. Auch außenpolitisch ging Erdoğan zunehmend auf Distanz zum Westen – trotz des Verbleibs in der NATO.

Identifikationsfigur für Teile der türkischen Diaspora

In den letzten Jahren gelang es Erdoğan, mehrere systemische Reformen in der Türkei durchzusetzen – unter anderem ein Präsidialsystem. Innenpolitisch erhielt er Rückendeckung durch einen Teil der nationalistischen Idealistenbewegung. Außerdem hat er bis heute enormen Rückhalt in den türkischen Einwanderercommunitys vieler EU-Länder.

Ausgrenzungserfahrungen, rassistische Tendenzen und Ereignisse wie die lange Zeit unentdeckte NSU-Mordserie in Deutschland hatten zur Entfremdung vieler türkischer Einwanderer von ihren neuen Heimatländern geführt. Erdoğan, der international ein türkisches Selbstbewusstsein verkörperte, das man von Regierenden vor seiner Zeit nicht gekannt hatte, wurde zur Identifikationsfigur.

Innenpolitisch bleibt die Türkei jedoch bis heute gespalten. Dazu kommen anhaltende wirtschaftliche Probleme wie die hohe Inflation. Zahlreiche Konflikte bleiben ungelöst – und werden auch einen Nachfolger Erdoğans weiter beschäftigen.



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