Libyen am Wendepunkt

Human Rights Watch-Mitarbeiterin Sarah Leah Whitson über spannende Entwicklungen im Land von Muammar al Gaddafi
Titelbild
Foto: Filippo Monteforte/AFP/Getty Images
Epoch Times23. Februar 2010

Vor kurzem verschlug es mich nach Tripolis zu einer Pressekonferenz, um einen Bericht über Menschenrechte in Libyen zu veröffentlichen. Tatsache! Es war ein öffentliches Ereignis in Libyens Hauptstadt, in dem die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch die Regierung von Muammar al-Gaddafi scharf kritisierte. In vielen Ländern ist dies alltäglich, in Libyen jedoch war dies ein bewegendes Ereignis. Aber es war nur der Durchbruch in einem der Bereiche, die wir auf unserer Reise feststellten.

Bis zur letzten Minute waren wir uns nicht sicher, ob die Innere Sicherheit die Konferenz trotz unserer offiziellen Erlaubnis tatsächlich wie geplant ablaufen lassen würde. Vier der fünf internationalen Journalisten, die auch teilnehmen wollten, konnten ihre Visa nicht rechtzeitig bekommen. Und die libyschen Behörden hielten einige Familien der 1.200 Gefangenen, die beim Massaker im Abu Salim-Gefängnis ums Leben kamen, von der Teilnahme ab, was auch ein Thema unseres Berichts war.

Doch der Veranstaltungsraum war zum Bersten gefüllt: Mindestens 100 Menschen kamen, einschließlich Journalisten, Aktivisten und Opfern von Missbrauch sowie ihre Familien. Es gab auch Agenten der Inneren Sicherheit, wie es sie auf der ganzen Welt gibt, die leicht erkennbar waren. Viele Libyer schienen unsere Begeisterung und Besorgnis anfänglich zu teilen und freuten sich ebenso wie wir über ihren Erfolg. Die Pressekonferenz war das Gesprächsthema der Stadt.

Wir beschrieben einige Fortschritte, kritisierten aber deutlich die ungesetzmäßige Herrschaft des Innenministeriums über das Land und betonten den Bedarf für eine echte Reform. Einige Libyer standen auf und erzählten mit mehr zitternder als mit klarer Stimme ihre Geschichten vom Leiden in den Händen ihrer Regierung. Dass nur zwei Schreihälse die Regierungsposition vertraten und laute Verleumdungen von sich gaben lässt die Veranstaltung als eine der gepflegtesten Pressekonferenzen in die Geschichte des Mittleren Ostens eingehen.

Dass in Libyen ein neuer Wind weht, stellten wir bei einer Forschungsreise im April fest. Journalisten und Anwälte sprachen offen mit uns über die Einschränkungen, denen sie begegneten. Das stellte eine überraschende Veränderung gegenüber früheren Besuchen dar. Die Familien der Opfer des Massakers von Abu Salim 1996 – ein Ereignis, das nie öffentlich von der Regierung bestätigt wurde – demonstrierten in den Straßen und weigerten sich, die ihnen gebotenen Gelder anzunehmen, damit sie nicht weiter auf ihr Recht drängten. Die Journalisten zweier Zeitungen und ausländischer libyscher Webseiten schrieben kritisch über das Versagen der Regierung. In unserem Bericht behandelten wir vorsichtig das Thema von „kleinen Verbesserungen“ in einem weiterhin von legalisierter Unterdrückung bestimmten System.

„Libyen steckt in den Geburtswehen; es ist ein schwieriger und schmerzvoller Prozess, aber Gottes Wille, Tugend und Wahrheit werden überwiegen.“ Libyens Justizminister Mustafa Muhammad Abdeljalil

Aber nichts hätte mich bei meinen Besuchen in Libyen darauf vorbereiten können, was wir im Dezember sahen. Es gab unter der herrschenden Elite offenen Dissens und einen öffentlichen Kampf um die Kontrolle der gesetzwidrigen Sicherheitskräfte. Bei einem Treffen mit dem Justizminister Mustafa Muhammad Abdeljalilfragten wir, warum die Innere Sicherheit weiterhin die Befehle seiner Gerichte missachtet und jene 330 Menschen nicht freilässt, die seinem Urteil zufolge unschuldig sind. Er schaute uns direkt in die Augen und sagte ruhig, dass sie „korrupt“ und eine „über dem Gesetz stehende Institution“ wären. Als wir ihn fragten und versuchten unsere Überraschung über das, was wirklich geschah, zu überspielen, sagte er, dass Libyen in den „Geburtswehen stecke; es ist ein schwieriger und schmerzvoller Prozess, aber Gottes Wille, Tugend und Wahrheit werden überwiegen.“

Nur zwei Tage vor der Veröffentlichung unseres Berichts gab die Gaddafi-Stiftung unter dem Vorsitz von Seif al-Islam, dem Sohn des libyschen Führers Muammar al-Gaddafi, einen schonungslosen Bericht über Menschenrechte, der unserem ähnlich war, heraus. In erschreckend offener Sprache stellte er die Rolle der Sicherheitsbüros und die „Gesetzmäßigkeit einer Regierung, die es nicht schafft, Gerichtsurteile umzusetzen“ in Frage und fügte hinzu: „Dies wirft die tiefere Frage auf, wer dieses Land regiert. Ist es das Allgemeine Volkskomittee (das Kabinett) oder sind es andere Kräfte?“

Wir brachen ein weiteres Tabu, indem wir eine libysche Familie zuhause besuchten, die wegen des politischen Aktivismus ihrer beiden Söhne von der Regierung brutal misshandelt worden war. Die Bedingungen unsere beiden vorherigen Besuche schlossen die strikte Anweisung ein, die Libyer zu ihrer eigenen Sicherheit zuhause nicht zu stören. Das Thema wurde diesmal nicht erwähnt, so dass wir unsere Besuche machten. Wir wurden von zwei Wagen der Sicherheitsbehörden verfolgt, aber sie hielten Abstand und störten uns nicht.

„Ein kleiner Schritt für uns, aber ein großer Schritt für Libyen“

Wir sprachen stundenlang mit der Familie über die Verhaftungen, Schläge und Misshandlungen mehrerer Brüder, nachdem Sicherheitskräfte entdeckt hatten, dass einige eine Demonstration auf Libyens Zentralplatz geplant hatten. Als uns der jüngste Bruder erzählte, warum er darin verwickelt wurde, sagte er ruhig und langsam: „es könnte wie zu der Zeit sein, als die Amerikaner auf dem Mond landeten… ein kleiner Schritt für uns, aber ein großer Schritt für Libyen.“

In der bleischweren, undurchdringlichen Welt der libyschen Politik mögen offene Grabenkämpfe und öffentliche Meinungsverschiedenheiten elektrisierend wirken, doch sie sind extrem zerbrechlich und unbeständig. Dies könnte der Wendepunkt hin zu echtem Fortschritts sein, wenn die geplante Erneuerung des Strafgesetzbuchs die Redefreiheit nicht mehr so sehr einschränkt und das Büro für Innere Sicherheit dazu gebracht wird dem Gesetz zu gehorchen. Aber es könnte genauso gut damit enden, dass die deutlichen Meinungsäußerungen von Seif al-Islam, des Justizministers und der jungen Aktivisten zu verboten werden. Dies ist eine günstige Gelegenheit und die internationale Gemeinschaft muss sie lautstark unterstützen, um den Reformkräften zu helfen.

 

Sarah Leah Whitson ist Leiterin der Abteilung Mittlerer Osten und Nordafrika von Human Rights Watch und eine Mitwirkende bei Foreign Policy In Focus.


Original auf Englisch: Libya at a Turning Point

Foto: Filippo Monteforte/AFP/Getty Images




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