Türkei: „Ewiger Zweiter“ Kılıçdaroğlu will Erdoğan als Präsident ablösen

Der CHP-Chef Kemal Kılıçdaroğlu kandidiert für das Oppositionsbündnis in der Türkei als Präsidentschaftskandidat. Seit 2010 führt er seine Partei an. Diesmal hat er reelle Chancen auf einen Sieg.
Die größte Oppositionspartei CHP wollte ihren Parteichef Kemal Kilicdaroglu aufstellen und wurde dabei von vier kleineren Parteien unterstützt.
Der türkische Präsidentschaftskandidat des Oppositionsblocks, Kemal Kılıçdaroğlu.Foto: Bradley Secker/dpa
Von 10. März 2023

Nach einigem Tauziehen hat das aus sechs Parteien bestehende Oppositionsbündnis „Allianz der Nation“ in der Türkei seinen Präsidentschaftskandidaten gekürt. Der seit 2010 amtierende Vorsitzende der „Republikanischen Volkspartei“ (CHP), Kemal Kılıçdaroğlu, wird am 14. Mai den Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan herausfordern. Dieser bestimmt seit mehr als 20 Jahren die Geschicke der türkischen Politik.

Akşener verließ aus Protest gegen Kılıçdaroğlu kurzzeitig das Bündnis

Noch am Freitag der Vorwoche, 3. März, drohte das Oppositionsbündnis auseinanderzubrechen. Die Vorsitzende der „Guten Partei“ (IYI), Meral Akşener, verließ aus Protest gegen die sich abzeichnende Entscheidung für Kılıçdaroğlu den Verhandlungstisch.

Sie hätte einen der Metropolenbürgermeister als Kandidaten bevorzugt – entweder den Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoğlu oder das Stadtoberhaupt von Ankara, Mansur Yavaş. Diesen seien wesentlich höhere Erfolgschancen zuzutrauen als Kılıçdaroğlu. Am Montag jedoch kehrte Akşener – wenn auch mit missmutigem Gesichtsausdruck während der Vorstellungszeremonie – zurück, um ihre Unterstützung für den CHP-Vorsitzenden zu erklären.

Zuvor hatte dieser zugesagt, Imamoğlu und Yavaş als Vizepräsidenten zu nominieren. Dieses Amt, das derzeit Fuat Oktay innehat, gibt es in der Türkei erst seit 2018. Entstanden ist es auf der Grundlage der Präsidialverfassung, die Erdoğan per Referendum eingeführt hatte – und die das Oppositionsbündnis wieder abschaffen möchte.

Vorsitzender der CHP durch Jahre der Bedeutungslosigkeit

Die Bedenken Akşeners gegen die Nominierung Kılıçdaroğlus rühren vor allem von dessen bisheriger politischer Erfolgsbilanz her. Der heute 74-Jährige hatte die ehemalige atatürkistische Staatspartei übernommen, nachdem der amtierende CHP-Vorsitzende Deniz Baykal über anzügliche Videoaufnahmen gestolpert war. Ein Jahr zuvor hatte Kılıçdaroğlu noch die Wahl zum Oberbürgermeister von Istanbul gegen Kadir Topbaş (AKP) verloren.

Aber auch als CHP-Vorsitzender hat er sich einen Ruf als „ewiger Zweiter“ eingehandelt. Erdoğan und die AKP konnten bei allen überregionalen Wahlen und Volksabstimmungen ihre führende Rolle behaupten. Für die CHP blieben 26 bis 27 Prozent bei Parlamentswahlen eine gläserne Decke.

Diesmal jedoch scheint die Opposition auf einen ähnlichen Effekt zu hoffen, wie er 2020 in den USA Präsident Joe Biden ins Amt verhalf. Kılıçdaroğlu präsentiert sich als „Elder Statesman“, der für frühere Fehler der CHP Abbitte leistet und zur Versöhnung aufruft.

Kılıçdaroğlu beschwört nationale Versöhnung

Er besuchte Iftar-Veranstaltungen (Mahl, das von Muslimen während des Ramadans nach Sonnenuntergang jeden Abend eingenommen wird) und Moscheen, um dem starken religiösen Wählerblock in der Türkei zu signalisieren, gläubige Muslime müssten vor der CHP keine Angst mehr haben. In der Zeit vor Erdoğan verbannten Sicherheitskräfte Frauen mit Hidschab noch im Namen des „Laizismus“ von Universitäten. Heute bekennt sich Kılıçdaroğlu zum Recht auf Kopftuch.

Um nationalistische Wähler anzusprechen, zeigte er 2017 den sogenannten Wolfsgruß und fordert die Rückführung eines großen Teils der syrischen Flüchtlinge, die seit 2011 in der Türkei leben. Mittlerweile denkt er jedoch auch daran, sich mit Politikern der „Demokratischen Partei der Völker“ (HDP) zu treffen.

Die vor allem in Kurdengebieten stark vertretene Linksaußen-Partei gilt vielen in der Türkei als politischer Arm der PKK. Mehrere Vorstandsmitglieder oder Bürgermeister gerieten wegen ihrer Nähe zu der terroristischen Organisation ins Visier der Justiz. Bis dato galt die HDP auch aus Sicht der Opposition als eine Partei außerhalb des Verfassungsbogens.

Ministeramt für PKK-nahe HDP als „rote Linie“ für Akşener

Mittlerweile ist jedoch sogar Meral Akşener bereit, solche Gespräche Kılıçdaroğlus zu akzeptieren, um eine Konkurrenzkandidatur der HDP zu verhindern. Die Politikerin stammt aus der nationalistischen sogenannten Idealistenbewegung, der auch die „Partei der Nationalistischen Bewegung“ (MHP) und die „Partei der Großen Einheit“ (BBP) angehören. Mit beiden überwarf sie sich jedoch, nachdem diese Präsident Erdoğan ihre Loyalität geschworen hatten. Aus den Reihen der „Idealisten“ kamen regelmäßig Forderungen nach einer Schließung der HDP durch den Verfassungsgerichtshof.

Gegenüber der englischsprachigen Ausgabe der „Hürriyet“ bezeichnete Akşener es als rote Linie, der HDP Ministerien anzutragen oder mit ihr Regierungsverhandlungen zu führen. Zuvor hatte die HDP die Nominierung Kılıçdaroğlus für das Präsidentenamt begrüßt.

Der Co-Vorsitzende der HDP, Mithat Sancar, deutete an, seine Partei werde auf einen eigenen Präsidentschaftskandidaten verzichten und Kılıçdaroğlu unterstützen, wenn dieser zu Gesprächen in die Parteizentrale käme. Es solle bei diesen nicht um ein Regierungsbündnis, sondern lediglich um einen „Dialog“ gehen.

Oppositionsbündnis bemüht sich um Rückkehr von Muharrem İnce

Erste Umfragen räumen Kılıçdaroğlu reelle Chancen auf einen Sieg bei der Präsidentschaftswahl ein. Bislang konnten Erdoğan und die AKP stets auf wirtschaftliche Erfolge verweisen und damit unschlüssige Wähler für sich gewinnen. Nun jedoch ist die Inflation hoch, die Bürger leiden unter der Teuerung und die Folgen der verheerenden Erdbeben im Februar stellen den Staatshaushalt vor weitere Herausforderungen.

Erdoğan genießt derweil ungebrochene Wertschätzung bei vielen Türken im In- und Ausland, weil er außenpolitisch als unbeugsamer Verfechter türkischer Interessen gegenüber feindseligen Akteuren aller Art gilt. Entscheidend wird bei der Wahl sein, ob wechselbereite Wähler eher die Außenpolitik oder die Wirtschaftspolitik höher gewichten werden.

Das Oppositionsbündnis, dem Kılıçdaroğlu vorsteht, ist sehr heterogen. Es reicht von seiner eigenen links-kemalistischen Partei über die wirtschaftsliberalen Formationen DEVA und GP, die „Demokratische Partei“ und die IYI-Partei bis hin zur islamischen „Saadet“. Diese hatte einst der 2011 verstorbene Millî-Görüş-Übervater Necmettin Erbakan gegründet. Sie alle eint der Wunsch nach einem Wechsel und Forderungen wie das Ende des Präsidialsystems oder eine Entpolitisierung der Justiz.

Eine große Unbekannte bleibt die „Heimatlandpartei“ des früheren Oppositionskandidaten Muharrem İnce, der aus der CHP ausgetreten war. Er hatte 2018 noch 30 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen können. Teile der CHP bemühen sich derzeit, ihn in die Partei zurückzuholen.

Neben den beiden großen Bündnisblöcken dürfte es auch zur Kandidatur des Kandidaten eines linksextremen Pools unter Führung der marxistisch-leninistischen EMEK-Partei kommen. Offen ist auch, ob der Linksnationalist Doğu Perinçek für das Präsidentenamt kandidiert. Auf den Wahlausgang werden beide voraussichtlich keinen Einfluss haben.



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