Suizidanstieg in Deutschland – eine Bevölkerungsgruppe besonders gefährdet

Deutschland verzeichnete 2022 den stärksten Anstieg der Suizidfälle seit 1980. Was könnten die Gründe dafür sein?
Titelbild
Männer sind besonders suizidgefährdet.Foto: iStock
Von 25. April 2024

Der Wohlstand eines Landes zeigt sich nicht nur an einer starken Wirtschaft, niedrigen Erwerbslosigkeit oder einer hohen Lebenserwartung.

Auch der Umgang mit den Schwachen und Hilfebedürftigen, die Zahl der Suchtkranken und die Suizidrate sind Anzeichen für die Lebensqualität eines Landes.

In Deutschland starben im Jahr 2022 deutlich mehr Menschen durch Suizid (10.119) als durch Verkehrsunfälle, Mord und Totschlag, illegale Drogen und AIDS zusammen (7.088).

Die Anzahl der Selbsttötungen stieg um 9,8 Prozent (904 Fälle) auf 10.119 – der stärkste Anstieg seit 1980. Die Anzahl der Suizide lag damit erstmals seit 2015 wieder über 10.000.

Das Nationale Suizidpräventionsprogramm (NaSPro) veröffentlichte die Zahlen Ende 2023, die auf der jährlich aktualisierten Todesursachenstatistik des Statistischen Bundesamtes beruhen.

In Deutschland lag die Suizidrate im Jahr 2022 bei 12,1 Selbsttötungen auf 100.000 Einwohner. Im Jahr 2020 lag sie noch bei 11,1.

Zum Vergleich: Unter den EU-Ländern hatte im Jahr 2020 Litauen mit 21,3 die höchste Suizidrate, gefolgt von Ungarn (17,1) und Slowenien (17,0). Zypern hatte hingegen damals die niedrigste Rate (3,5), gefolgt von Malta und Griechenland (beide 4,0).

Männer besonders gefährdet

In dem noch durch Corona-Maßnahmen gekennzeichneten Jahr 2022 entfielen in Deutschland mit 74,2 Prozent fast drei Viertel aller Suizide auf Männer (7.504). Der höhere Anteil an Männern ist ein langjähriger Trend.

Die deutliche Mehrheit der Selbsttötungen (73,4 Prozent) entfällt auf die Altersgruppe der über 50-Jährigen.

Die promovierte Psychologin Andrea Christidis sieht wirtschaftliche Probleme als einen wichtigen Auslöser für Selbsttötungen in dieser Altersgruppe. Diese wurden für viele in der Corona-Zeit durch die Infektionsschutzmaßnahmen verstärkt, wenn Kleinunternehmer ihre Geschäfte, Restaurants oder Friseursalons nicht hätten öffnen dürfen. „Dadurch konnte vielleicht der gerade erst aufgenommene große Kredit nicht abbezahlt und die Mitarbeiter gehalten werden“, so Christidis.

Das „große Versprechen“ vom Staat zu Corona-Hilfszahlungen habe ein Aufatmen gebracht. Jedoch sei es oft wieder zu Frust gekommen, da die Gelder teilweise zurückgezahlt werden mussten. In einigen Fällen wurde Geschäftsinhabern vorgeworfen, sie hätten Betrug begangen.

Mehr Suizide in Hamburg und Brandenburg

Besonders stark fiel der Anstieg der Suizidrate zwischen 2021 und 2022 in Brandenburg und Hamburg aus (um jeweils +2,4 pro 100.000 Einwohner). Nur in Thüringen (-2,5) und im Saarland (-0,9) sank die Suizidrate.

Im Jahr 2022 hatte Sachsen (17,2) die höchste Suizidrate und Hessen die niedrigste (12,9).

In Brandenburg lag sie 2022 mit 14,2 deutlich über dem Bundesdurchschnitt von 12,1, wobei die Suizidrate von Männern bei 21,9 und die von Frauen bei 6,8 lag.

Das brandenburgische Gesundheitsministerium hält die Zahlen für unauffällig. „Insgesamt kann man eine relativ stabile Suizidrate beobachten“, heißt es aus Potsdam auf Nachfrage. Im Zehn-Jahres-Vergleich hätten sich in drei Jahren (2013, 2014 und 2015) bereits höhere Raten als 2022 gezeigt. „Daher liegt das Jahr 2022 trotz Anstieg im Vergleich zum Vorjahr im langjährigen Mittel.“

Regionale Tendenzen?

Einen Zusammenhang zwischen dem Anstieg der Suizide und den Corona-Maßnahmen sehe das Ministerium nicht. „Ein kausaler Zusammenhang ist aktuell nicht belegbar“, heißt es.

Auch ein Zusammenhang mit Regionen, die besonders von Erwerbslosigkeit betroffen sind oder als wirtschafts- und strukturschwach gelten, ist für Potsdam nicht erkennbar.

Dabei stellen die Prignitz mit 18,5 Prozent (bei Männern sogar 32), Uckermark mit 17,9 Prozent, Brandenburg an der Havel mit 17,8 Prozent sowohl die Schlusslichter bei der Suizidrate als auch bei der Arbeitslosenquote dar.

Dazu heißt es aus dem Ministerium, dass „eine klare regionale Tendenz“ nicht zu beobachten sei.

Junge Menschen: Ein gemischtes Bild

Bei den Fünf- bis 24-Jährigen weisen die Zahlen von 2022 einen leichten Rückgang der Selbsttötungen im Vergleich zum Vorjahr auf. So sank die Suizidrate in dieser Altersgruppe von 3,1 (2021) auf 3,0 (2022), während sie in allen anderen Altersgruppen wuchs.

Laut dem NaSPro ist daher ein „drastischer Anstieg der Suizidrate im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie für jüngere Menschen“ aus den Daten nicht abzuleiten.

Allerdings stieg unter den jungen Menschen von fünf bis 25 Lebensjahren im selben Zeitraum der Anteil der Suizide an den Sterbefällen auf 16,0 Prozent (+1,4 Prozent).

Während das NaSPro keinen Hinweis auf einen bedeutsamen Einfluss der Corona-Krise auf die Suizidhäufigkeit unter jungen Menschen sieht, schließt die brandenburgische Landtagsabgeordnete Dr. Daniela Oeynhausen (AfD) dies nicht aus. Die Medizinerin zeigt sich beunruhigt über die Entwicklung und die Zahlen in der Regierungsantwort auf ihre Anfrage vom Dezember 2023.

Verantwortlich für die in ihren Augen „katastrophale Entwicklung“ seien Land und Kreise. Sie hätten die Menschen in der Corona-Krise im Stich gelassen.

Aber auch unabhängig davon fehlten im Land konkrete Angebote vor Ort, um Menschen in multiplen Krisenzeiten aus der Depression zu holen, kritisiert die AfD-Politikerin. „Das muss sich endlich ändern.“

Benötigt würden Elternabende, die das Thema aufgreifen würden, und mehr Infos zu den Leistungen des psychosozialen Dienstes, schlägt sie vor.

2,2 Millionen Euro für Kontakt- und Beratungsstellen

Auf die Frage an die brandenburgische Landesregierung, wie sie Selbsttötungen besser vorbeugen will, heißt es: Potsdam fördere die Kontakt- und Beratungsstellen für psychisch Kranke und die Beratungs- und Behandlungsstellen für Suchtkranke in den Landkreisen und kreisfreien Städten, um gefährdeten Menschen Unterstützung anzubieten. Hierfür wurden im Jahr 2023 rund 2,2 Millionen Euro ausgegeben.

„Außerdem wurden 2021 die Behandlungskapazitäten der Psychiatrie sowie der Kinder- und Jugendpsychiatrie im stationären und tagesklinischen Bereich deutlich ausgebaut“, erklärt das brandenburgische Gesundheitsministerium gegenüber Epoch Times.

Warnsignale erkennen

Laut der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention ist Suizidalität ein Hinweis auf eine „sehr große seelische innere Not“. Oft leiden die Betroffenen an einer psychischen Erkrankung. Faktoren wie Lebenskrisen, körperliche Erkrankungen oder belastende Lebensereignisse spielten oft auch eine Rolle. Die Gesellschaft warnt vor einfachen Erklärungen.

Allerdings gebe es Warnsignale, „die uns helfen können, auf einen Menschen, dem es nicht gut geht und der Suizidgedanken entwickelt, aufmerksam zu werden“.

Nach Angaben der WHO sterben weltweit jedes Jahr über 700.000 Menschen durch Suizid.

Anm. d. Red.: Falls Sie oder ein Ihnen nahestehender Mensch Suizidgedanken haben, holen Sie sich Hilfe. Kontaktieren Sie die Telefonseelsorge, die anonym, kostenlos und rund um die Uhr unter 0800 / 111 0 111 oder 0800 / 111 0 222 erreichbar ist.

Zusätzliche Hilfsangebote, an die sich Betroffene und Angehörige wenden können, finden Sie auf der Website der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention.



Epoch TV
Epoch Vital
Kommentare
Liebe Leser,

vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.

Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.

Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.


Ihre Epoch Times - Redaktion