„Ich bin rumgerannt und habe gesagt, wir müssen aufarbeiten, lernen, heilen“

Die Ethikrat-Vorsitzende war zu Gast beim „PresseClub München“ und sprach unter anderem über die Folgen von Corona-Maßnahmen für die junge Generation. Eine Aufarbeitung dieser Zeit muss ihrer Meinung nach „gut gestaltet sein“.
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Alena Buyx ist seit 2020 Vorsitzende des Deutschen EthikratesFoto: Christian Marquardt – Pool/Getty Images
Von 5. Dezember 2023

Corona hat die Gesellschaft gespalten. Während der Pandemie entwickelten sich Hardliner in beide Richtungen: Die, die die Auflagen der Politik mit unwidersprochenem Gehorsam akzeptierten und ihnen folgten, und die, die Maßnahmen infrage stellten und sie kritisch beäugten. Derzeit ist der Begriff „Aufarbeitung“ in aller Munde. So hatte der „PresseClub München“ kürzlich Alena Buyx eingeladen, um mit der Vorsitzenden des Ethikrats zum Thema „Zerbricht unsere Gesellschaft an Hass und Hetze“ zu diskutieren.

Impfung war eine „Lebensschutzchance“

„Die Konflikte, die wir in unseren Gesellschaften austragen, die entstehen aus unterschiedlichen moralischen Überzeugungen“, erläutert die 46-Jährige (ab ca. Minute 13). Man versuche, das zu sichten und zu prüfen, um dann den Blick auf alle zu nehmen. Die besten Argumente würden herausgearbeitet, um dann zu einer, manchmal auch zu mehreren begründeten Positionen zu kommen.

Während der Corona-Pandemie habe es mehrmals einheitliche Empfehlungen gegeben. So etwa bei der Priorisierung der Impfstoffe. Das sei „ein knappes Gut“ gewesen: „Alle wollten den haben“, behauptet Buyx. „Das waren Lebensschutzchancen, die da verteilt wurden.“ Es sei um „Leben und Tod“ gegangen. „Das haben wir alle ein Bisschen vergessen.“

Unter Berücksichtigung des Gleichhandlungsprinzips – alle sind gleich viel wert – hatten alle den gleichen Anspruch. „Aber wir hatten nicht für alle genug. Das ist eine klassische Frage der Verteilungsgerechtigkeit, und dann gibt’s unterschiedliche moralische Wertsysteme, wie man das lösen kann.“

Die hätten sich die Mitglieder des Gremiums dann angeschaut. „Wir haben uns die ethischen Prinzipien angeschaut, die sich anwenden ließen, auch die rechtlichen.“ Auf dieser Grundlage habe der Ethikrat den Vorschlag, den die Politik dann genommen habe, ausgearbeitet.

Der Ethikrat stellte sich zunächst gegen eine Impfpflicht, sah die Bevölkerung aber in einer besonderen Verantwortung. So titelte der „Spiegel“ im Februar 2021 mit einem Zitat der Ethikrat-Chefin:  „Gibt es eine moralische Pflicht, sich impfen zu lassen? Ja!“ Die damalige Diskussion um die Priorisierung von Impfkandidaten, den Umgang mit Impfrestdosen, eine mögliche Rückgabe von Freiheitsrechten bei bereits Geimpften kommentierte sie mit dem Satz: „Jede Dosis muss in einen Arm.“

Ende 2021 änderte das Gremium mehrheitlich seine Haltung und passte sich den Forderungen Politik an. So heißt es in einer Pressemitteilung des Ethikrats vom 22. Dezember 2021:  „Auf der Grundlage einer differenzierten Darstellung wesentlicher ethischer und rechtlicher Argumente für und gegen eine allgemeine gesetzliche Impfpflicht plädiert der Deutsche Ethikrat in seiner am 22. Dezember veröffentlichten Ad-hoc-Empfehlung, ‚Ethische Orientierung zur Frage einer allgemeinen gesetzlichen Impfpflicht‘ für eine Ausweitung der Impfpflicht über die kürzlich vom Deutschen Bundestag beschlossene bereichsbezogene Impfpflicht hinaus.“

Und weiter: „Mit der vorgelegten Empfehlung kommt der Deutsche Ethikrat einer Bitte der Bundesregierung und der Ministerpräsidentinnen und -präsidenten vom 2. Dezember 2021 nach, eine Einschätzung zu den ethischen Aspekten einer allgemeinen gesetzlichen Impfpflicht abzugeben. Er betont, dass hohe Impfquoten entscheidend sind, um in eine kontrollierte endemische Situation zu kommen. Derzeit stößt das deutsche Gesundheitssystem vielerorts an seine Grenzen. Virusvarianten wie Omikron und erwartbar weitere Varianten des Virus nötigen Sachverständige dazu, ihre Einschätzungen zum künftigen Pandemieverlauf immer wieder aufs Neue zu überprüfen.“

Buyx: Jugend war „supersolidarisch“

Darauf angesprochen, dass die Kinder die Opfer einer restriktiven Corona-Politik gewesen seien, behauptete Buyx (etwa ab Minute 16:15): „Die Belastung der Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen war initial nicht so hoch. Es gab wirklich auch Daten – die waren alle vorläufig und noch nicht […] überprüft – aber ich erinnere im Sommer nach dem ersten Lockdown Daten von Kinderpsychologinnen und -psychologen, Psychiater, die gesagt haben, die sind da gut durchgekommen. Und alle haben gedacht: Gott sei Dank, die junge Generation ist resilient.“

Doch dann habe die Belastung immer mehr zugenommen, „je länger das gedauert hat, und die Jungen haben sich zurückgenommen und waren supersolidarisch zu Gunsten der Erwachsenen, und insbesondere derjenigen mit hohen Risiken (…). Und wir haben vom Ethikrat schon dann auch immer wieder gesagt, wir müssen uns alle zusammenreißen für die junge Generation (…) weil die konnten (sic!) noch nicht geimpft werden.“ Es sei um die Frage gegangen, ob die Älteren wieder in alle Restaurants und feiern gehen dürfen.

Buyx Relativierung der Belastung von Kindern und Jugendlichen stehen Aussagen der Bundesregierung gegenüber. So sagte Bundesjugendministerin Lisa Paus (Grüne) im Februar 2023: „73 Prozent der jungen Menschen sind auch durch die Einschränkungen während der Pandemie bis heute enorm gestresst.“ Verschiedene Untersuchungen hätten gezeigt, dass Kinder und Jugendliche durch die Corona-Pandemie besonders belastet wurden.

Solidarität der jungen Menschen nicht erwidert

Doch sei der Ethikrat der Ansicht gewesen, dass die Gesellschaft nun den jungen Menschen gegenüber solidarisch sein müsse: Sozusagen die Fälle unten halten, alle miteinander, damit die Schulen offen bleiben für die Jungen.

Im Rückblick habe der Ethikrat dann Ende 2022 eine Empfehlung abgegeben, „in der wir gesagt haben, wir haben als Gesellschaft den Jungen diese Solidarität nicht zurückgegeben, das ist eine unerwiderte Solidarität geblieben“.

Auch der Ethikrat habe das „nicht genug gesehen“. Im Gremium habe man zwar darüber geredet, „und ich habe irgendwelche Interviews gegeben, aber wir haben kein Papier gemacht, wir haben keine richtige Empfehlung gemacht“. Das bedauere sie bis heute zutiefst, sagt Buyx, selbst Mutter von zwei Söhnen. „Gott sei Dank“ könne man sehen, dass „sich die junge Generation erholt“. Denn als man die Empfehlung gemacht habe, habe es um die psychische Gesundheit der Jungen nicht gut gestanden.

Junge Generation ist „irrsinnig resilient“

Dann habe es erste Studien und den Jugendbericht der UNESCO gegeben. Den jungen Erwachsenen, „die nicht diesen normalen Start ins Leben hatten“, sei viel genommen worden. „Viel zu spät“, räumt Buyx ein, habe man versucht, darauf hinzuweisen, „unsere Plattform zu nutzen und der Politik zu sagen: Ihr müsst das zur Chefsache machen, das ist wirklich ein wichtiges Thema“.

Denn schon seien die nächsten Krisen da – Ukrainekrieg, Energiekrise, Inflation. Und erneut sei darüber diskutiert worden, ob das Wasser in Schwimmbädern kälter sein und Sportanlagen geschlossen werden sollten. Das habe der Ethikrat abgelehnt. „Die Jungen haben wirklich viel mitgemacht, also die können wir jetzt nicht schon wieder in die Pflicht nehmen, da müssen jetzt wir Erwachsene und Ältere ran.“

Mit Blick auf die Folgen der Pandemie auf die junge Generation, sagte Buyx, dass diese „irrsinnig resilient“ sei und sich davon erhole.

Tiefes Bedürfnis nach der Suche von Schuldigen

Eine Aufarbeitung der Pandemie-Zeit hält Buyx grundsätzlich für wichtig (ca. ab 1:05:40). „Ich bin rumgerannt und habe gesagt, wir müssen aufarbeiten, lernen, heilen.“ Allerdings müsste eine derartige Aufarbeitung „wirklich gut gestaltet sein“.

Derzeit sehe sie „ein tiefes Bedürfnis danach, Schuldige zu suchen“ und „natürlich auch zu sagen: ihr Politikerinnen und Politiker!“ Die im Saal anwesenden Pressevertreter nahm Buyx auch gleich mit ins Boot: „Und im Übrigen, Sie wären da ja nicht außen vor, das wissen Sie ganz genau. Also das würde ja die Medienschaffenden ganz genauso betreffen, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und was weiß ich nicht alles.“

Sie habe daher die Sorge, dass Zweifel gesät werden soll „an diesen demokratischen Institutionen, an der Politik insgesamt. Es war alles falsch, war alles Böse. Sie haben alle falsch berichtet, Sie hatten alle den Maulkorb, das war gleichgeschaltet“.

Diese „Form von Narrativen“ hat laut Buyx derzeit „ein durchaus erstaunliches Übergewicht in der öffentlichen Wahrnehmung und Debatte“.

Davon sei sie auch selbst betroffen: „Also wenn Sie in die Tiefen des Internets gehen, Tichy, Reitschuster usw., da finden Sie wirklich schlimmes Zeug über mich, was ich angeblich gesagt oder gemacht habe. Und ein Narrativ ist immer: Die Buyx will nicht aufarbeiten, weil ich mal öffentlich gesagt habe, uns ist die Aufarbeitung ein Stück genommen worden als Gesellschaft, weil dann der Krieg kam. Das ist so, das heißt aber ja nicht, dass ich sage, wir sollten nicht aufarbeiten.“

Buyx: Impfung hat in Europa 1,5 Millionen Menschen gerettet

Allerdings müsste man das „gut machen“, sagte die Ethikrat-Vorsitzende und verwies auf England, wo es gerade einen Untersuchungsausschuss gegeben habe.

In dem Abschlussbericht sei der damalige Regierungschef Boris Johnson für seine weniger radikale Corona-Politik „gegeißelt“ worden. „Soundsoviel Hunderttausend Tote waren komplett überflüssig, und die hat die Politik verursacht“, sagt Buyx.

Schuld sei die weniger rigide Corona-Politik der Johnson-Regierung gewesen. Daher werde aktuell „die etwas weniger restriktive Politik in Großbritannien aufgearbeitet und extrem kritisiert. Das muss man sich auch klarmachen“. In weiteren Verlauf sagt Buyx sehr bestimmt: „Die Impfung hat in Europa 1,5 Millionen Menschen gerettet, mindestens. Darüber redet kein Mensch!“ Woher Buyx die Zahl hat, sagte sie nicht. Auch hakte keiner der Anwesenden oder die Moderatoren der Runde nach.

In dem Zusammenhang erwähnt sie den „zweiten Lockdown“ Ende 2020. Der sei aufgrund vielfältiger Diskussionen zwei Wochen zu spät gekommen. Es geben mehrere Studien, nach denen sich „der Verdacht erhärtet“, dass diese Verspätung „50.000 Menschen das Leben gekostet hat. Das ist doch keine Lächerlichkeit“. Sie sei daher „ein bisschen empört, wie diese Debatten laufen, dass man nur darüber redet, wie falsch dann doch alles war, und wie stark und wie übergriffig und wie schrecklich“.

Das YouTube-Video, das den kompletten, rund eineinhalb Stunden währenden Auftritt zeigt, ist (Stand 5. Dezember) bisher lediglich knapp 6.000 Mal innerhalb von elf Tagen aufgerufen worden. Die Kommentarfunktion ist deaktiviert.



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