Der Kardinalfehler der deutschen Einheit

Epoch Times sprach mit Dr. Rainer Karlsch auf einer Berliner Fachtagung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur über die Methoden, mit denen die SBZ-Verwaltung und später das SED-Regime die Privatwirtschaft in den sowjetisch besetzten Teilen Deutschlands verstaatlichte, über die Rolle der Treuhand und dem ökonomischen Kardinalfehler der deutschen Einheit.
Titelbild
Dr. Rainer Karlsch bei seinem Vortrag auf einer Fachtagung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.Foto: Erik Rusch/Epoch Times
Von 23. Februar 2024

„Der Grundgedanke war, dass Staatseigentum per se das überlegene Eigentum ist,“ so der Wirtschaftshistoriker Dr. Rainer Karlsch auf der Berliner Fachtagung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der DDR-Diktatur unter dem Thema „Enteignungen in SBZ und DDR“. Er war einer der Referenten der Veranstaltung am 19. Februar und ist Autor des 2023 erschienenen Buches „Familienunternehmen in Ostdeutschland“.

Dr. Karlsch, was waren die Schlaglichter der Verstaatlichung in SBZ und DDR?

Die große Enteignung von Großbetrieben geschah unter sowjetischer Besatzungsherrschaft in den Jahren 1946 bis 1948. Mindestens ein Drittel des industriellen Eigentums gelangt so in die Hände der SBZ-Verwaltung der Länder. Ein weiteres Drittel behält sich die Sowjetunion direkt vor und wird in sowjetische Aktiengesellschaften überführt. Das sind Betriebe, die Reparationsgüter für die Sowjetunion produzieren müssen.

Diese Enteignung vor DDR-Gründung hat entscheidende Weichen für die Transformation der Eigentumsverhältnisse in der späteren DDR gesetzt. Nach der DDR-Gründung kommt es zu einer zweiten Enteignungswelle mithilfe des Wirtschaftsstrafrechts und des Steuerrechts, die bis zum Ende der DDR andauert. Ihr Höhepunkt war in den frühen 50er-Jahren. Ziel war es, privates Unternehmertum de facto auszulöschen. Erst nach dem 17. Juni 1953 – dem DDR-weiten Volksaufstand – gibt es Erleichterungen.

Die Betriebe, die sich noch in privater Hand befinden, haben die Möglichkeit, einer staatlichen Beteiligung an ihren Privatunternehmen zuzustimmen. Diese staatliche Beteiligung ist allerdings eine Einbahnstraße, denn nur der Staat kann Anteile dazugewinnen. Damit ist absehbar, dass auch diese Eigentumsform eines Tages enden wird. 1972 war dies der Fall, als der „Knock-out“ für den DDR-Mittelstand vom SED-Politbüro beschlossen wurde. Die restlichen staatsbeteiligten Betriebe oder die wenigen noch in Privathand befindlichen Betriebe wurden auch dann in Staatseigentum überführt.

Welcher Grundgedanke steckte hinter der Verstaatlichung?

Der Grundgedanke war, dass Staatseigentum per se das überlegene Eigentum ist. Staatliches Eigentum kann man durch Planen besser organisieren und der Plan ist besser als der Markt, so die damalige ideologische Grundüberlegung. Dabei widersprachen die Erfahrungen mit den Betrieben, mit teilweiser staatlicher Beteiligung, dieser Überlegung. Diese noch teilweise privat geführten Betriebe waren die beweglichsten und flexibelsten Betriebe in der DDR-Planwirtschaft. Trotzdem dominierte das ideologische Denken und das sowjetische Vorbild, wo es keine teilstaatlichen oder privaten Unternehmen gab. Erich Honecker wollte nach sowjetischem Vorbild eine hundertprozentige Staatswirtschaft.

Um die wirtschaftlichen Probleme der Verstaatlichung zu kaschieren, schürte die Staatsführung Anfang der 70er-Jahre Sozialneid unter der Bevölkerung gegen die letzten teilstaatlichen Privatunternehmen und privaten Handwerker, die ein vergleichsweise hohes Einkommen gegenüber den staatlichen Kombinaten hatten.

Auch Volkswirte in der DDR hielten die Pläne der DDR-Staatsführung für widersinnig und ökonomisch nachteilig, berichteten sie auf dem Podium. Warum?

Es gab Betriebsdirektoren von volkseigenen Betrieben, die sehr wohl vorhersahen, dass diese Verstaatlichungen wenig bringen, sondern nur schaden werden. Kleinere Betriebe sind flexibler, können bestimmte Produkte in kleineren Größen herstellen als ein großes, schwerfälliges Kombinat. Das war den wirtschaftlich denkenden Leitern zum Teil bewusst, aber sie konnten sich nicht widersetzen.

Später fehlten dadurch Produkte auf dem DDR-Markt. Ist das richtig?

Ja, das waren ganz normale Dinge des Alltags wie Zahnbürsten, Angelhaken und vieles andere mehr, was zuvor von Kleinbetrieben produziert wurde. Das gab ein böses Erwachen in den frühen 70er-Jahren. Alle bekamen die sogenannten Versorgungslücken zu spüren, weil Produkte des alltäglichen Lebens dann nicht mehr oder in schlechterer Qualität produziert wurden. Der Staat hat dann versucht gegenzusteuern, indem die großen Kombinate Auflagen erhielten, mindestens fünf Prozent ihrer industriellen Warenproduktion auf Konsumgüter umzustellen. In vielen Fällen war das ökonomisch äußerst fragwürdig und hat zu wirtschaftlichen Verwerfungen geführt. Die Konsumgüterkosten trieb man so in die Höhe, ohne dass man Produkte in vergleichsweise hoher Qualität wie zuvor hatte.

2023 erschien sein Buch „Familienunternehmen in Ostdeutschland, Niedergang und Neuanfang von 1945 bis heute“. Foto: Epoch Times, Collage: Epoch Times

Wie genau funktionierten die Verstaatlichungsmethoden?

Vielen Privatunternehmern war klar, dass das Modell der staatlichen Beteiligung nicht ewig andauern wird. Mitte 1966 gab es eine große Konferenz, wo Unternehmer an die DDR-Führung die Frage richteten: „Wie lange werdet ihr uns noch akzeptieren?“ Walter Ulbricht als DDR-Staatsführer hat dann geantwortet: „Wenn ihr eure Pläne erfüllt, könnt ihr noch mindestens 20, 25 Jahre so weitermachen.“ Als dann der Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker kam, galten diese Worte nicht mehr.

Von der SED-Führung wurde Druck auf die sogenannten Blockparteien wie die DDR-CDU und LDPD ausgeübt. Sie wurden aufgefordert, einige Unternehmer dazu zu bringen „freiwillige“ Erklärungen abzugeben und auf den jeweiligen Parteitagen ihr Eigentum gegen eine kleine Entschädigung an den Staat abzutreten. Die ausgewählten Unternehmer wurden jedoch im Vorfeld dieser „freiwilligen“ Aktion massiv unter Druck gesetzt.

Die Stasi half mit Material zu sammeln, um eine Drohkulisse gegenüber den Unternehmern aufzubauen. „Wenn ihr nicht an den Staat verkauft, dann können wir auch noch ganz anders mit euch umgehen“, so die Botschaft. Daher haben die meisten ihren Widerstand aufgegeben und nur noch versucht bessere „Kapitulationsbedingungen“ auszuhandeln.

Gab es Ausnahmen bei der Verstaatlichung?

Es gab einzelne Privatinstitute, die nicht verstaatlicht wurden. Das war das Forschungsinstitut von Manfred von Ardenne. Das war eine Ausnahme, weil dort eine besondere Beziehung zur Sowjetunion bestand und es auch eine Außenwirkung Richtung Westen gab. In den frühen 80er-Jahren gestand man sich dann ein, dass eine weitere Ausdünnung des Handwerks und des Kleinhandels der DDR nur schadet. Darum gestattete die DDR-Führung einen Aufwuchs im privat produzierenden Handwerk. Bis zu zehn Personen durften nun bei einem Handwerker angestellt sein. Das hat aber nicht ausgereicht, um die Schäden wiedergutzumachen.

Hat die Verstaatlichung letztlich zu dem wirtschaftlichen Niedergang der DDR geführt?

Man kann das verkürzt so sagen. Wobei die großen Verstaatlichungswellen Ende der 40er-Jahre, die unter Besatzungsrecht stattgefunden haben, und Anfang der 50er-Jahre die entscheidenden Enteignungswellen waren. 1972 war dann noch ein Nachgang, der die Probleme der DDR noch weiter verschärft hat.

War die Art, wie die Wiedervereinigung aus wirtschaftspolitischer Sicht durchgeführt wurde, aus historischer Sicht ein glücklicher Übergang?

Es war ein dornenvoller Weg. Die DDR-Volkskammer hatte im März 1990 ein Unternehmensgesetz erlassen, mit dem Eigentümer, die 1972 ihr Eigentum verloren haben, ihre alten Rechte wieder eingesetzt bekommen konnten. Davon hat man sich ein Aufblühen des Mittelstandes in Ostdeutschland versprochen. Das war eine Illusion, denn nach zwei Jahrzehnten Verstaatlichung waren viele Unternehmer älter geworden, die Welt hatte sich geändert, und sie standen plötzlich einer westdeutschen Konkurrenz gegenüber, der sie mit den weitgehend veralteten Betrieben und ohne ausreichendes Kapital kaum gewachsen waren. Die Restitutionen, die auf Grundlage dieses Unternehmensgesetzes durchgeführt wurden, waren jedoch rechtlich gesehen richtig. Unrecht muss versucht werden zu heilen.

1972 waren noch rund 500.000 Beschäftigte in Betrieben mit staatlicher Beteiligung oder Privatbetrieben tätig. Nach Abschluss der Restitution Mitte der 90er-Jahre waren es ungefähr 100.000, die in diesen zurückgegebenen Betrieben wieder tätig waren. Das allein konnte einen Mittelstand nicht begründen.

Ein Erfolgsmodell war hingegen das MBO- und MBI-Konzept. Der Begriff Management-Buy-out (MBO) bezeichnet in diesem Fall die Übernahme eines Unternehmens durch dessen eigene Betriebsleitung. Management-Buy-in (MBI) bedeutet in diesem Fall, dass die staatlichen Betriebe durch ein externes Management übernommen oder die Übernahme mithilfe eines Investors durch ein fremdes Management vollzogen wurde. Dabei spaltete man auch große Kombinate in Einzelteile auf. Teilweise mit Mitteln der Treuhandanstalt wurden so kleine und mittelgroße Unternehmen aufgebaut. So sind rund 2.500 Unternehmen entstanden. Zudem gab es Hunderttausende Neugründungen von Unternehmen, was dazu führte, dass allmählich eine Reindustrialisierung auch im Osten wieder zustande kam.

Was sagen sie zu dem Vorwurf, dass die Treuhand DDR-Betriebe „verramscht“ hätte?

Die These eines Ausverkaufs der DDR-Wirtschaft durch die Treuhand an den Westen sehe ich als nicht belegt an. Natürlich gab es einige Fälle, in denen sich Unternehmer aus dem Westen versucht haben zu bereichern oder auch tatsächlich bereichert haben. Auf die Gesamtlage der ostdeutschen Wirtschaft bezogen war das Kardinalproblem der deutschen Einheit jedoch die schnelle Einführung der D-Mark in den neuen Bundesländern.

Die meisten Betriebe waren dadurch schlagartig nicht mehr konkurrenzfähig, weil die Lohnstückkosten sofort um das Drei- bis Vierfache stiegen. Diese Nachteile gegenüber den westdeutschen Betrieben konnten nur durch Massenentlassungen oder hohe Investitionen in neue Maschinen kompensiert werden, um die Produktivität schnell nach oben zu bringen. Das war ein Wettlauf gegen die Zeit.

Das DDR-Finanzministerium ging unabhängig davon aus, dass ein Drittel der Betriebe untergeht, weil sie mit ihren Produkten qualitativ nicht konkurrenzfähig sind. Ein Drittel hielt man für sanierungsfähig und das letzte Drittel war in ihren Augen in kurzer Zeit übernahmefähig. So kam es auch, aber nicht, weil es ein Ausverkauf war oder weil die böse Treuhandanstalt diese Unternehmen untergehen lassen wollte, sondern weil viele DDR-Betriebe keine auf absehbare Zeit marktfähigen Produkte produzieren konnten.

Wäre die D-Mark hingegen nicht eingeführt und stattdessen Übergangsregelungen eingerichtet worden, dann hätten wahrscheinlich weitere 100.000 ehemalige DDR-Bürger den Osten verlassen. Sie wären zu den besser bezahlten Arbeitsplätzen gegangen, was ohnehin passierte. Das Jahr 1990 war somit ein Jahr der Politik und kein Jahr der Ökonomen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Erik Rusch.

Dr. Rainer Karlsch, geboren 1957, Studium der Wirtschaftsgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, 1986 Doctor oec., 1982–2004 unter anderem am Lehrstuhl für Wirtschaftsgeschichte der Humboldt-Universität sowie am Lehrstuhl der Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsgeschichte der Freien Universität Berlin tätig, seit 2005 freiberuflicher Wirtschaftshistoriker, 2017–2021 Institut für Zeitgeschichte München-Berlin.



Epoch TV
Epoch Vital
Kommentare
Liebe Leser,

vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.

Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.

Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.


Ihre Epoch Times - Redaktion