Borrell zur EU-Außenpolitik: „Es geht um die Identität, Dummkopf“

In ungewohnt selbstkritischer Weise geht der Hohe Repräsentant Borrell mit der Außenpolitik der EU ins Gericht. Man müsse den anderen „besser zuhören“.
Titelbild
EU-Außenbeauftragter Josep Borrell.Foto: Carlos Alvarez/Getty Images
Von 13. Oktober 2022

An dieser Stelle wird ein Podcast von Podcaster angezeigt. Bitte akzeptieren Sie mit einem Klick auf den folgenden Button die Marketing-Cookies, um den Podcast anzuhören.

Kritische Worte verlor am Montag, 10. Oktober, der Hohe Repräsentant der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, beim Jahrestreffen mit seinen Botschaftern. In seiner Eröffnungsrede in Brüssel gestand er vor den EU-Botschaftern gravierende Fehleinschätzungen in der Außenpolitik ein. Der Staatenbund unterhält derzeit in 130 Ländern eigene diplomatische Vertretungen – zusätzlich zu jenen der 27 Mitgliedstaaten.

Borrell stimmte die diplomatischen Vertreter der EU in seiner Rede auf harte Zeiten ein. Die Unsicherheit in der Welt werde künftig eher die Regel als eine Ausnahme sein:

Wie es im Moment aussieht, werden die schwarzen und nicht die weißen Schwäne in der Mehrheit sein. Eins nach dem anderen sind Dinge, die wir für wenig wahrscheinlich gehalten haben, nichtsdestotrotz passiert. Und sie hatten starke Auswirkungen.“

Borrell: Neuer Präsident in den USA könnte weniger europafreundlich sein

Europa habe „die Quellen unseres Wohlstands komplett von den Quellen unserer Sicherheit entkoppelt“. Der Wohlstand der EU-Länder habe auf billiger Energie aus Russland und billigen Produkten aus China beruht. Die eigene Sicherheit hingegen habe man an die Vereinigten Staaten delegiert.

Der Ukraine-Krieg habe „das Weltbild vieler erschüttert – in den Hauptstädten der EU, an den Universitäten, unter Diplomaten“. Man habe geglaubt, die wirtschaftliche Verflechtung würde friedliche Konfliktlösungen garantieren. Am Ende sei man in Abhängigkeiten geraten.

Gerade in der nunmehrigen Situation verzweifelter Suche nach Gas- und Stromlieferanten dürfe man nicht „die eine Abhängigkeit durch eine neue Abhängigkeit ersetzen“. Auch wenn US-amerikanisches Flüssiggas nun Europas Lage erleichtere, stelle sich die Frage:

Aber was würde passieren, wenn sich die Vereinigten Staaten mit einem neuen Präsidenten nicht mehr so freundlich kooperativ gegenüber Europa verhalten?“

Hoher Repräsentant will wie „Außenminister Europas“ behandelt werden

An der „Vergemeinschaftung der Politiken durch die Kommission“ und der „Nationalisierung der Politiken durch den Rat“ will Borrell festhalten. Es gebe „noch viel zu tun, um eine einzige Macht zu sein, die im Namen der gesamten Union handelt“.

Borrell, der sich als „Außenminister Europas“ sieht, bestand gegenüber den Diplomaten zudem auf schnellerem Informationsfluss:

Mit euch allen in aller Welt sollte ich eigentlich der bestinformierte Mensch weltweit sein.“

Deshalb sollten die Vertretungen, die als „Delegationen“ bezeichnet werden, sich ihm gegenüber „wie Botschaften“ verhalten:

Senden Sie ein Telegramm, eine Mail – und zwar schnell. Reagieren Sie bitte, schnell.“

Borrell mahnt zu weniger Arroganz und sichtbarem Sendungsbewusstsein

Gleichzeitig mahnte er die Botschafter, diese sollten „die Rolle Europas als rechtsstaatliches und demokratisches Vorbild für andere Regionen der Welt nicht überschätzen“. Europa versuche, sein Modell zu exportieren, denke aber nicht ausreichend darüber nach, wie der Rest der Welt dies wahrnehme.

Es gebe auf EU-Ebene „zu viele Kantianer und zu wenig Hobbesianer“. Der Anspruch, über ein Modell zu verfügen, dem andere folgen sollten, werde „aus kulturellen, historischen und wirtschaftlichen Gründen nicht mehr akzeptiert“.

Auch das Selbstbild als „Land der Vernunft“ verfange nicht mehr. Europa neige dazu, nach eigenen Maßstäben rationale Argumente überzubewerten:

Wir glauben, dass wir besser wissen, was im Interesse der anderen ist. Wir unterschätzen die Rolle der Emotionen und die anhaltende Anziehungskraft der Identitätspolitik.“

Kommunikation als Schlachtfeld

Den berühmten Wahlkampfslogan Bill Clintons im Jahr 1992, „It’s the economy, stupid“, wandelte Borrell in seiner Rede ab in: „Es geht um die Identität, Dummkopf“. Diese sei mittlerweile noch wichtiger geworden als die Wirtschaft. Das mache Empathie und Zuhören im Umgang mit anderen aber auch Minderheiten in der EU selbst erforderlich:

Es gibt immer mehr Identitäten, die anerkannt und akzeptiert werden wollen und nicht mit dem ‚westlichen‘ Ansatz verschmelzen wollen.“

Dennoch sieht Borrell eine Chance, die europäische Sache in der Welt erfolgreich verkaufen zu können. Die Voraussetzung dafür sei eine effektivere Kommunikation:

Dies ist ein Kampf, den wir nicht gewinnen, weil wir nicht genug kämpfen. Wir verstehen nicht, dass es ein Kampf ist. Abgesehen von der Eroberung eines Raumes muss man auch die Köpfe erobern. Darin sind die Russen und die Chinesen sehr gut. […] Wir haben kein Russia Today oder einen Sputnik, nicht einmal Radio Liberty. Aber ich denke, dass Sie alle viel mehr für die Kommunikation tun müssen.“



Epoch TV
Epoch Vital
Kommentare
Liebe Leser,

vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.

Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.

Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.


Ihre Epoch Times - Redaktion