Polen: Erste Prognosen sehen Verluste für PiS – Weiterregieren nur mit Zentristen möglich

In Polen deutet sich nach ersten Nachwahlbefragungen ein Verlust der absoluten Mehrheit der PiS an. Zusätzlich zu den Wahlen zu Sejm und Senat fand noch ein nationales Referendum statt. Die Wahlbeteiligung stieg deutlich gegenüber 2019.
Jaroslaw Kaczynski (M) spricht zu seinen Anhängern während einer Wahlkampfveranstaltung.
Jaroslaw Kaczynski (M, PiS-Führer) spricht zu seinen Anhängern während einer Wahlkampfveranstaltung.Foto: Czarek Sokolowski/AP/dpa
Von 15. Oktober 2023

Ersten Nachwahlbefragungen von Ipsos zufolge könnte es in Polen zu einem Machtwechsel kommen. Am Sonntag den 15. Oktober wurden die 460 Abgeordneten zum Sejm – dem Unterhaus des Parlaments – und die 100 Senatoren neu gewählt. Darüber hinaus hatten die Stimmberechtigten die Möglichkeit, sich an einem Referendum mit vier Fragen zu Sachthemen zu beteiligen.

PiS kann nicht mehr allein und nicht mit „Konfederacja“ regieren

Der Ipsos-Prognose zum Sejm zufolge kam die PiS auf 36,8 Prozent, was ein Minus von knapp sieben Prozent darstellt. Die pro-europäische Bürgerkoalition (PO) kommt auf 31,6 Prozent – ein Plus von 4,2 Prozent. Der neu gegründete, zentristische „Dritte Weg“ kommt auf 13 Prozent. Die Linkspartei verliert vier Prozent und kommt auf 8,6 Prozent. Unter den Erwartungen blieb die „Konfederacja“ mit 6,2 Prozent (minus 0,6). Mit aussagekräftigen Ergebnissen ist jedoch erst im Laufe der kommenden Tage zu rechnen.

Der ersten Prognose zufolge käme die PiS auf 200 Sitze im Sejm. Die PO könnte mit 163 Mandaten rechnen. Die Linkspartei liegt demnach bei 30, die Konföderation bei 12 Sitzen. Zum Zünglein an der Waage könnten damit die von den Christdemokraten angeführten Zentristen des „Dritten Wegs“ werden. Sie könnten mit 55 Sitzen zusammen mit der PiS regieren – aber auch mit der PO ein Bündnis unter Einschluss der Linkspartei bilden. Beide Optionen wären in den eigenen Reihen nicht unumstritten.

Mehr als 16 Millionen Bürger waren stimmberechtigt

Ersten Angaben zufolge gaben 72,9 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Polnische Medien berichteten bereits am späten Nachmittag von einer hohen Wahlbeteiligung. Den Kommissionen zufolge hatten um 17 Uhr – und damit vier Stunden vor Schluss der Wahllokale – bereits 57,54 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben. Im Jahr 2019 lag die Beteiligung bei 61,7 Prozent – um 17 Uhr bei 45,94.

Aus der Nationalen Wahlkommission hieß es, dass der sprunghaft gestiegene Andrang zum Nachmittag mit einem „sportlichen Ereignis“ zusammenhängen könnte. Um 20.45 erfolgte am Sonntag der Anpfiff zum Qualifikationsspiel Polens für die EURO 2024 gegen Moldawien in der Gruppe E. Für die Wahlen zum Sejm wurden 16.425.830 Stimmzettel ausgegeben.

Wahlbeteiligung in ganz Polen deutlich gestiegen

In der Wojwodschaft Schlesien sowie in Thorn soll es einem Bericht von „wPolityce“ zufolge zu Engpässen bezüglich der Stimmzettel gekommen sein. Die Wahlkommissionen mussten zusätzliche anfordern. Vor zahlreichen Stimmlokalen sei es auch zu langen Warteschlangen gekommen. Auch deshalb hatte die Nationale Wahlkommission noch einmal deutlich gemacht, dass alle Stimmberechtigten, die um 21 Uhr zum Wählen anstünden, ihre Stimme abgeben könnten.

Einen entscheidenden Beitrag zum Stimmergebnis könnte die Mobilisierung geleistet haben. Während die Wahlbeteiligung in Oppositionshochburgen wie Warschau, Posen und Danzig bereits 2019 hoch war, stieg sie im PiS-Hoffnungsgebiet Bialystok deutlich. Auch in Stettin, wo die oppositionelle „Bürgerkoalition“ (PO) 2019 knapp vorangelegen hatte, gingen deutlich mehr Bürger zur Wahl als vor vier Jahren. Allerdings scheinen dort auch die Christdemokraten Wähler an die Urnen gebracht zu haben. Der „Dritte Weg“ erschien vielen Polen als Option, die der PiS einen Denkzettel verpassen wollten, ohne das Land jedoch in ein linksliberales Fahrwasser zu führen.

Zu geringe Teilnahme am Referendum

Zu Irritationen kam es Beiträgen auf X zufolge im Zusammenhang mit dem gleichzeitig stattfindenden Referendum. Mitglieder der Wahlkommission sollen Wähler explizit gefragt haben, ob sie sich auch an der gleichzeitigen Volksbefragung beteiligen wollten. Einige X-Nutzer sahen darin einen Manipulationsversuch durch das Suggerieren einer geringeren Wichtigkeit dieses Wahlprozesses.

Das Referendum setzte sich aus vier Fragen zusammen. Diese beschäftigten sich mit den Themen Privatisierung, Erhöhung des Renteneintrittsalters, mit der Grenzbefestigung zu Weißrussland und dem EU-Migrationspakt.

Vor allem die Fragen zur Privatisierung und zur Migration waren in einer inhaltlich tendenziösen Form abgefasst. So beinhaltete die Fragestellungen zur Privatisierung einen expliziten Hinweis auf einen möglichen „Verlust polnischer Kontrolle über strategische Wirtschaftssektoren“. Zudem lautete die Migrationsfrage auf die „Zuteilung tausender illegaler Migranten aus Nahost und Afrika“ – und den Konnex zum „erzwungenen Verteilungsmechanismus, auferlegt von der europäischen Bürokratie“.

Ersten Prognosen zufolge beteiligten sich nur 40 Prozent der Wahlberechtigten am Referendum. Damit erlangt dieses keine Gültigkeit.

Hohe Inflation und schwaches Wachstum in Polen halfen der Opposition

Die Wahl stand im Zeichen unterschiedlicher Themenschwerpunkte – wobei die regierende PiS einiges zu verlieren hatte. Während es ihr 2019 gelungen war, eine eigene Mehrheit im Sejm zu verteidigen, verlor sie den Senat bereits an die Opposition.

Diese versuchte unter anderem mit dem Verweis auf eine hohe Inflation von mehr als elf Prozent und ein schwaches Wirtschaftswachstum von 0,5 Prozent zu punkten. Zwar handelt es sich dabei um Probleme, mit denen auch andere EU-Staaten konfrontiert sind. Die Wähler machen jedoch regelmäßig die jeweils regierenden Parteien des jeweiligen Landes dafür verantwortlich.

Die PiS versuchte mit ihrer Bilanz einer sozialen Absicherungspolitik dagegenzuhalten, die für den polnischen Konservatismus bisher kennzeichnend war. In ländlichen Gebieten und unter ärmeren Bevölkerungsgruppen stieß dies noch verhältnismäßig am stärksten auf Wertschätzung.

Außenpolitischer Kurs verprellt Verbündete – ohne neue Partner zu gewinnen

Wie in bislang jedem Wahlkampf setzten PiS und Opposition auf Kulturkampfthemen. So inszenierte sich jede Seite jeweils als Bollwerk für oder wider die EU, die LGBTQ-Agenda oder die katholische Kirche. Dies zielt weniger darauf ab, Wähler der Gegenseite zu überzeugen, sondern das eigene Stammpublikum zu mobilisieren.

Die PiS verprellte jedoch mit einigen politischen Entscheidungen auch Teile der eigenen Wählerschaft. War die konservative Regierungspartei bisher die Führungsmacht in der Visegrád-Gruppe, schaffte sie durch ihre lange Zeit bedingungslose Unterstützung der Ukraine-Distanz zu Ungarn. Gleichzeitig dankte man ihr aufseiten der linksliberalen Eliten in Brüssel und Berlin die aggressive russophobe Ausrichtung nicht im gewünschten Maße.

Polen blieb weiterhin im Visier der Brüsseler Hüter der „Rechtsstaatlichkeit“. Auch die Weigerung, sich an der Verteilung von Flüchtlingen zu beteiligen, brachte Westeuropa weiterhin gegen Warschau auf. Sogar mit der Ukraine selbst überwarf man sich mit Blick auf die Frage der Getreideimporte. Im „Intermarium“, das PiS-nahe Intellektuelle mithilfe Kiews und weiterer osteuropäischer Länder aufbauen wollte, blieb man allein.

PiS verliert Wähler nach links und rechts

Gleichzeitig überaltert die Wählerschaft der Regierungspartei, während junge Frauen vermehrt die Linksopposition und junge Männer die „Konfederacja“ wählen. Diese rechtslibertäre Partei, in deren Bündnis sich auch Kräfte der äußersten Rechten finden, strebt unter anderem eine Normalisierung mit Russland an. Zur EU und zur Ukraine fordert sie maximale Distanz.

Die Chance der PiS, sich an der Regierung zu halten, liegt in einem möglichen Mitte-rechts-Bündnis mit dem „Dritten Weg“. Für eine solche Option spricht, dass die Sympathien für die aus der Kommunistischen Partei hervorgegangene Linkspartei auch unter den Christdemokraten begrenzt sind. Allerdings werden sie eine EU-freundlichere Ausrichtung zur Bedingung für eine Zusammenarbeit machen.



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