Russischer Stratege denkt an Atomschlag, um „Westen zur Vernunft zu bringen“ – Warnungen aus Schweden

Ein jüngst publizierter Aufsatz des früheren Kreml-Beraters Sergej Karaganow sorgt für Aufsehen. Er will einen atomaren Erstschlag Russlands gegen Europa nicht ausschließen. Zugleich warnt der schwedische Verteidigungsausschuss vor der Ausweitung des Krieges und dem Einsatz von Atomwaffen.
Gemeinsame strategischee Übung der Streitkräfte von Russland und Belarus im September 2021 auf dem russischen Truppenübungsplatz Mulino unter Beteiligung zahlreicher Hubschrauber.
Gemeinsame strategische Übung der Streitkräfte von Russland und Belarus im September 2021 auf dem russischen Truppenübungsplatz Mulino unter Beteiligung zahlreicher Hubschrauber.Foto: Vadim Savitskiy/Russian Defense Ministry Press Service/AP/dpa
Von 19. Juni 2023

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Mit einem Essay in der von ihm selbst herausgegebenen Zeitschrift „Russia in Global Affairs“ hat der russische Politikwissenschaftler Sergej Karaganow für Aufregung gesorgt. In dem Beitrag fordert er, Russland solle sich das Recht auf einen nuklearen Erstschlag vorbehalten. Dies sei erforderlich, um den Westen von seinen geopolitischen Ambitionen abzubringen.

Ukraine-Krieg „hält Russland von seiner Hinwendung zu Eurasien ab“

Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist dabei der Krieg in der Ukraine. Karaganow geht davon aus, dass auch ein klarer russischer Sieg die Konfrontation mit dem Westen nicht beenden würde. Zudem sieht er auch im Falle eines erfolgreichen Verlaufs in der Ukraine hohe Kosten und Verluste.

Wie Karaganow in seinem Essay äußert, wäre dies bereits bei einer Eroberung weiter Teile der Süd- und Ostukraine über den Donbass hinaus der Fall. Es werde nach wie vor einen anderen Teil der Ukraine geben. Dieser werde von einer „noch verbitterteren, mit Waffen vollgepumpten ultranationalistischen Bevölkerung“ bewohnt. Der Westen werde diese weiterhin in die Lage versetzen, „Komplikationen und einen neuen Krieg“ hervorzurufen.

Selbst eine Erreichung der Maximalziele Russlands in der Ukraine würde Russland mehr kosten als nützen. Der Ukraine-Konflikt werde Russland ablenken von der „Verlagerung seines geistigen, wirtschaftlichen und militärisch-politischen Schwerpunkts in den Osten Eurasiens“.

Westliche Eliten „gegen alles, was das Wesen des Menschen ausmacht“

Um Russlands westliche Flanke zu beruhigen, wäre es erforderlich, so Karaganow, den Westen selbst zu einem „strategischen Rückzug“ zu zwingen. Die westlichen Eliten hätten „begonnen, das Unkraut, das sich nach siebzig Jahren Wohlstand, Sättigung und Frieden durchgesetzt hat, aktiv zu nähren“.

Ebendiese lehnten „Familie, Heimat, Geschichte, die Liebe zwischen Mann und Frau, den Glauben, das Engagement für höhere Ideale“ und alles ab, „was das Wesen des Menschen ausmacht“. Damit zerstöre der Westen nicht nur seine eigene Gesellschaft. Er habe sogar die Angst vor den Folgen einer atomaren Eskalation verloren. Für Karaganow steht fest:

Diese Angst muss wiederbelebt werden. Sonst ist die Menschheit dem Untergang geweiht.“

Russland könne „nicht mit verantwortungsvolleren Politikern im Westen rechnen“

Der Kreml müsse, so der Politikwissenschaftler, „die Leiter der Abschreckung und Eskalation schnell genug emporsteigen“. Die westliche Entwicklung des „anhaltenden Niedergangs der meisten ihrer Eliten“ lasse nichts Gutes erwarten.

Es sei, so Karaganow, damit zu rechnen, dass „jeder ihrer nächsten Aufrufe noch inkompetenter und ideologisch aufgeladener“ sein werde als der vorherige:

Wir können kaum erwarten, dass dort in naher Zukunft verantwortungsvollere und vernünftigere Führer an die Macht kommen werden. Dies kann nur nach einer Katharsis geschehen, nachdem sie ihre Ambitionen aufgegeben haben.“

Karaganow erklärt, er halte die Erfindung der Nuklearwaffen für eine „von Gott der Menschheit übergebene Waffe des Armageddon“. Diese sei in die Welt gekommen, als Europäer und Japaner innerhalb einer Generation zwei Weltkriege mit zig Millionen Todesopfern vom Zaun gebrochen hätten. Ihr Sinn sei es gewesen, „diejenigen, die die Angst vor der Hölle verloren hatten, an deren Existenz zu erinnern“.

Amerikaner würden „Boston nicht für Posen opfern“

Russland, so der Berater, müsse die Möglichkeit eines nuklearen Erstschlags ins Auge fassen. Nur so könne den Europäern die Angst vor einem atomaren Inferno zurückgegeben werden. Er rechne nicht damit, so Karaganow, dass die Amerikaner zugunsten der Europäer nuklear zurückschlagen würden. Sie wären nicht bereit, ihr eigenes Land aufs Spiel zu setzen und etwa „Boston für Posen“ zu opfern. Karaganow erklärt weiter:

Sowohl die USA als auch Europa wissen das sehr gut, aber sie ziehen es vor, nicht daran zu denken. Wir selbst haben diese Gedankenlosigkeit mit unserer eigenen friedliebenden Rhetorik gefördert.“

Bereits im Kalten Krieg hätten die Amerikaner, nachdem die Sowjetunion die Atombombe erhalten habe, die Möglichkeit des Einsatzes von Atomwaffen gegen sowjetisches Territorium nicht ernsthaft in Erwägung gezogen. Wenn sie jemals eine solche Möglichkeit in Betracht gezogen hätten, dann nur gegen mögliche vorrückende sowjetische Truppen in Westeuropa selbst.

Sollte selbst ein solcher Erstschlag die Europäer nicht beeindrucken, will Karaganow nachlegen. Russland müsse dann „eine Reihe von Zielen in einer Reihe von Ländern anvisieren, um diejenigen, die den Verstand verloren haben, zur Vernunft zu bringen“.

Karaganow ist deutlich einflussreicher als beispielsweise Dugin

Wie die Aussagen Karaganows zu beurteilen sind und welches Gewicht sie haben, ist ungewiss – und bereits diese Eignung, Unsicherheit hervorzurufen, könnten sie mitmotiviert haben. Auch im Gesamtzusammenhang gelesen machen sie zweifellos deutlich: Die Bereitschaft, eine Eskalation des Ukraine-Krieges in Kauf zu nehmen, steigt auch auf russischer Seite.

Anders als beispielsweise der „Eurasien“-Ideologe Alexander Dugin, dessen reale Bedeutung in Russland westliche Medien regelmäßig übertreiben, hat Karaganow auch tatsächlich Zugang zum Kreml. Er war Berater der Präsidenten Boris Jelzin und Wladimir Putin sowie des Premierministers Jewgeni Primakow. Er ist heute noch Mitglied in zahlreichen offiziellen Beiräten mit Bezug zu Sicherheit und Außenpolitik. Neben seiner Zeitschrift „Russia in Global Affairs“ ist Karaganow zudem als Mitgründer auch im Waldai-Klub präsent.

Was allerdings bezeichnend ist, ist der Umstand, dass Karaganow anders als Dugin nicht von vornherein eine Annäherung Russlands an den Westen abgelehnt hatte. Mittlerweile zieht jedoch sogar er ein Bündnis mit dem KP-geführten China der Verständigungspolitik früherer Jahre mit Europa vor.

Änderung bestehender russischer Nukleardoktrin?

An der geltenden Nuklearstrategie der Russischen Föderation ändert jedoch auch die persönliche Meinung von Sergej Karaganow nichts. Diese schließt einen nuklearen Erstschlag definitiv aus. Eine so weitreichende Entscheidung wäre auch ohne öffentliche Debatte und umfangreiche Erörterung unter allen politisch und militärisch Verantwortlichen schwer denkbar.

Dies bringt auch Karaganow selbst in seinem Essay zum Ausdruck. Er äußert, die ersten Schritte zur Verstärkung der nuklearen Abschreckung seien getan. Dazu verweist Karaganow auf die angekündigte Stationierung von Kernwaffen und deren Trägern in Belarus und die erhöhte Kampfbereitschaft der strategischen Abschreckungskräfte.

Aber es gibt noch viele weitere Schritte auf dieser Leiter. Ich habe etwa zwei Dutzend gezählt.“

Unterdessen hat der schwedische Verteidigungsausschuss in einem sicherheitspolitischen Bericht vor der Ausweitung des Krieges und dem Einsatz von Atomwaffen gewarnt.

„Die schwedische Sicherheitspolitik muss dem Risiko Rechnung tragen, dass der Krieg Russlands gegen die Ukraine zu einem größeren Krieg in Europa eskaliert“, zitiert „Bild“ den Bericht. „Es könnte auch bedeuten, dass Atomwaffen oder andere Massenvernichtungswaffen mit katastrophalen Folgen eingesetzt werden.“ Dies hätte „katastrophale Folgen für die Sicherheit weltweit, aber insbesondere in Europa“.

Das Kalkül der schwedischen Berater unterstreicht den Wunsch nach einem NATO-Beitritt des Landes. Die bevorstehende NATO-Mitgliedschaft erhöhe „sowohl Schwedens Sicherheit als auch die der Nato“, schreibt „Bild“. Momentan blockieren die Türkei und Ungarn einen schwedischen Beitritt zum transatlantischen Militärbündnis.



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