Taliban 2.0: Die Angst um Internet und Zensur

Mit der Machtübernahme durch die Taliban fürchten die Afghanen das Ende des offenen Zugangs zum Internet, Zensur und Repressalien.
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Auf diesem Foto vom 3. Juni 2021 sucht ein Taliban-Kämpfer in einem Krankenhaus im Bezirk Andar in der Provinz Ghazni nach einem Netzsignal für sein Mobiltelefon.Foto: WAKIL KOHSAR/AFP via Getty Images
Von 5. September 2021

Als die Taliban in den letzten Monaten in Afghanistan eine Region nach der anderen einnahmen, zerstörten sie wichtige Kommunikationsnetze des Landes, darunter Dutzende Kommunikationsantennen, Strommasten und andere Infrastrukturen. Das schürte die böse Vorahnung der Weltgemeinschaft, dass es in Afghanistan wieder „dunkel“ werden könnte. Als die Taliban zwischen 1996 und 2001 an der Macht waren, haben sie das Land komplett vom Internet getrennt.

Doch wie wird es dieses Mal ablaufen? Werden sie die Netze wieder abschalten und damit ihre eigene Propaganda und andere Online-Aktivitäten behindern? Oder werden sie alles intakt lassen und das Internet strategisch nutzen?

Afghanistan mit oder ohne Internet?

Während Experten davon ausgehen, dass das Internet bestehen bleibt, rechnen Afghanen mit dem Schlimmsten. „Ich wüsste nicht, wie in aller Welt sie versuchen sollten, ein Land ohne Internet zu regieren“, sagt Armee-Veteran Paul Cobaugh, der vier Jahre als Feldwebelleutnant in Afghanistan gedient hat. Cobaugh hat keinen Zweifel daran, dass ausländische Mächte „wie Russland und China“ den Taliban bei der Entwicklung von Technologie und Kommunikation helfen werden.

Alles deutet darauf hin, dass die Taliban die sozialen Medien nutzen werden und dass sie ihre Einwände gegen das Internet längst aufgegeben haben. Sollten die Taliban ihre Netzwerke allerdings doch abschalten, gibt es alternative Möglichkeiten zur Verbreitung ihrer Botschaften.

Seit Jahrzehnten nutzen die Taliban „Nachtbriefe“, die sogenannte „shabnamah“, um zu kommunizieren. Dabei handelt es sich um handgeschriebene Mitteilungen, die von Kurieren zugestellt und manchmal in örtlichen Moscheen ausgehängt werden. 

Dieses System umgeht digitale und elektronische Übermittlungswege, sodass es ausländischen Kräften ohne Personal vor Ort nahezu unmöglich ist, Informationen zu gewinnen. Sollten die Taliban die Netze des Landes also zerstören oder abschalten, könnte dies die USA ernsthaft daran hindern, durch elektronische Überwachung terroristische Organisationen in Afghanistan aufzuspüren.

Die 2013 durch den ehemaligen Auftragnehmer Edward Snowden geleakten NSA-Dateien enthielten Informationen darüber, dass Afghanistan zu den am meisten überwachten Ländern der USA gehörte. Da die USA in den letzten Monaten jedoch ihre Militärbasen und ihre Botschaft in Afghanistan geschlossen haben, können die meisten dortigen nachrichtendienstlichen Operationen nicht mehr weitergeführt werden.

Afghanen befürchten Internetzensur

Afghanen haben die Befürchtung, dass die Taliban anderen nicht erlauben werden, das Internet so zu nutzen, wie sie es bisher getan haben. „Das Internet ist in Afghanistan bedroht“, sagt Mohammad Najeeb Azizi, ehemaliger Vorsitzender der afghanischen Regulierungsbehörde für Telekommunikation (ATRA) gegenüber „Politico“. Die Taliban „wollen das Internet zu ihren Gunsten nutzen. Aber gleichzeitig werden sie es vorziehen, [politischen Gegnern] in Zukunft nicht zu erlauben, Informationen zu verbreiten“.

Es ist unklar, wie das neue Regime den Internetzugang kontrollieren wird und ob es Jagd auf politische Dissidenten machen und gegen die Meinungsfreiheit und die freie Meinungsäußerung im Internet vorgehen wird.

Obwohl der Zugang zum Internet in Afghanistan nach wie vor relativ offen ist, hat die Machtübernahme die Bürger für die digitale Präsenz sensibilisiert. Viele Afghanen haben schnell ihre Profile in sozialen Medien und Online-Inhalten auf Verbindungen zu NATO-Truppen geprüft und gelöscht.

Für die afghanischen Bürger gibt es noch eine weitere Sorge. Wenn die Taliban die Kontrolle über die Telekommunikationsinfrastruktur des Landes übernehmen, könnten sie den Internetzugang für bestimmte Gruppen wie Diplomaten, NGOs und die Medien unterbrechen oder Informationen darüber erhalten, wer Ausreisevisa beantragt.

Strom oft für nur eine Stunde

Zurzeit ist die Stromversorgung im Land nicht stabil. Die Einwohner in Kabul haben oft für nur ein paar Stunden Strom am Tag, wenn überhaupt. Manchmal auch nur für eine Stunde, um ihre technischen Geräte aufzuladen.

„Die Afghanen nutzen Kommunikationsdienste nicht nur, um ihr Leben zu verbessern, sondern auch, um in solch kritischen Zeiten mit ihren Angehörigen in Kontakt zu bleiben“, sagt ein Einwohner gegenüber „Aljazeera“.

Auch Muhammad Ali bestätigt diese düstere Diagnose. Ali hat in Afghanistan Informatik studiert und Web- und Grafikdesign unterrichtet. Er plante gerade ein Bitcoin-Geschäft, doch „plötzlich änderte sich alles und die Taliban übernahmen ganz Afghanistan“, sagte er zu „Reuters“.

„Es gibt kein Internet. Wenn es kein Internet gibt, kann ich meinen Job dort nicht machen. Wenn wir Smartphones mit einer Kamera hätten, würden die Taliban das nicht zulassen.“

Der junge Mann suchte nach seiner Flucht aus Afghanistan in einem Abwassertunnel außerhalb des Bezirks Tatvan in der osttürkischen Provinz Bitlis Zuflucht. Er wartet nun auf einen Transport – er möchte nach Europa weiterreisen. Etwa 50 weitere Personen waren mit ihm untergebracht.

Influencer werden zunehmend politisch

Die Telekommunikation ist ein Grundbedürfnis der afghanischen Bevölkerung. Eine Liste der beliebtesten Influencer in Afghanistan zeigt, wie groß der Einfluss des Internets bereits ist.

Die Sängerin Ghazal Sadat, die die Liste anführt, hat über 840.000 Follower auf ihrem offiziellen Instagram-Account. Obwohl ihre Inhalte sich um Mode und Beauty-Tipps drehen, wurde sie in den letzten Tagen zunehmend politischer. Sie veröffentlicht Bilder mit der afghanischen Flagge und bezeichnet den nun ehemaligen Präsidenten Ashraf Ghani als „Feigling“.

Ayeda Shadab ist Influencerin und Designerin in Afghanistan mit 300.000 Followern. In den letzten Wochen hat sie Posts veröffentlicht, dass sie angesichts der Bilder aus ihrem Land ihre Stimme erheben muss. „Die Taliban nehmen Tausende Kinder als Sexsklaven und Kinderbräute“, schrieb sie am 14. August. „Warum verhalten sich alle wie Blinde und unternehmen nichts? Warum sind alle ruhig und warten nur auf das Schlimmste? Warum sind alle so herzlos? Ist es nur, weil es nicht Ihr Land ist?“

Die Frage ist, wie lange diese Konten offen und der Welt zugänglich bleiben werden oder dort bald chinesische Verhältnisse herrschen?

Huawei hat enge Beziehungen zu Taliban

Apropos China. In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben Investitionen ausländischer Regierungen, insbesondere der Vereinigten Staaten über ihr USAID-Programm dazu beigetragen, die digitale Infrastruktur Afghanistans in Gang zu bringen.

Sie erweiterten die Internetdienste und Mobilfunkverbindungen in vielen Teilen des Landes. Ursprünglich hat jedoch eine andere Großmacht diese Infrastruktur in Gang gesetzt und gepflegt.

Laut „The Diplomat“ wurde im Jahr 2006 der Telekommunikationsriese ZTE von Afghanistan beauftragt, das erste Glasfaserkabelnetz des Landes aufzubauen. Diese Partnerschaft zum chinesischen Telekommunikationskonzern ZTE wurde Jahr für Jahr vertieft. 

Daten des Ministeriums für Kommunikation und Technologie zufolge hat die afghanische Telecom-Gesellschaft 2018 2G- und 3G-Dienste angeboten – 70 Prozent des Netzes bestanden damals aus ZTE-Geräten, die restlichen 30 Prozent aus Huawei-Geräten.

Chinas Beziehungen zu den Taliban reichen jedoch bis in die Zeit vor dem 11. September 2001 zurück. Nach Angaben von US-Geheimdienstmitarbeitern arbeiteten Huawei Technologies und ZTE bereits zwei Jahre vor diesem schrecklichen Ereignis an dem Telekommunikationssystem in Kabul, schreibt „FoxNews“.

Am 18. September 2001 erklärte der damalige Sprecher des chinesischen Außenministeriums, Zhu Bangzao: „China unterhält keinerlei formelle Beziehungen zu den Taliban“. Pekings Beziehungen zu der Gruppe seien „auf der Arbeitsebene“ angesiedelt. Er bezeichnete Berichte, wonach China Telekommunikationsnetze und Dämme für die Taliban baue, als „unbegründete Gerüchte“.

Huawei, Chinas größter Telekommunikations- und Netzwerkausrüster, unterhielt enge Beziehungen zu den Taliban. Die „Electronic Engineering Times“ berichtete im Dezember 2001, dass indische Geheimdienstbeamte glaubten, die indische Niederlassung von Huawei habe Überwachungsgeräte an die Taliban in Afghanistan geliefert. Huawei wies die Vorwürfe zurück, und eine Sprecherin des chinesischen Außenministeriums bezeichnete die Behauptungen als „irreführend“.

Veränderte Kriegführung der Taliban

Die Militär-Experten Christopher Ankersen und Mike Martin von der MIT sehen große Veränderungen in der Kriegsführung der Taliban, während der Westen nur wenige Fortschritte gemacht habe. Die ersten Luftangriffe der USA im Jahr 2001 wurden von B-52-Bombern durchgeführt, demselben Modell, das 1955 zum ersten Mal zum Einsatz kam und diese wurden auch im August 2021 noch verwendet. 

Die Taliban hätten sich in der Zeit weiterentwickelt, sagen die Experten. Sie haben sich Mobiltelefone und das Internet zunutze gemacht. Nicht nur, um ihre Waffen und ihre Kommando- und Kontrollsysteme zu verbessern, sondern vor allem, um ihre strategische Kommunikation und ihre Operationen durchzuführen. Sie mussten sich in der starken ausländischen Militärpräsenz anpassen. Sie haben zu ihrer einfachen Kampfausrüstung – die größtenteils aus einer Kalaschnikow, etwas Munition, einem Funkgerät und einem Kopftuch bestand – neue Technologien hinzugefügt, beispielsweise Drohnen.

Zwischen 1996 und 2001 hätten sie es vorgezogen, sich zurückzuziehen, und es gab nur ein einziges bekanntes Foto ihres Anführers, Mullah Omar. Seitdem haben die Taliban jedoch ein ausgeklügeltes Team für die Öffentlichkeitsarbeit aufgebaut und sich die sozialen Medien im In- und Ausland zunutze gemacht. Junge Taliban-Kämpfer in Afghanistan haben den strengen Look ihrer Vorgänger durch trendigere Kleidung mit Sonnenbrillen, schicken Turnschuhen und Baseballkappen mit der Taliban-Flagge ersetzt.

Während der ersten Regierungszeit der Taliban waren ihre Kämpfer für ihr zotteliges und strenges Erscheinungsbild bekannt, sie trugen traditionelle Kleidung und einen Vollbart – dies hat sich nun geändert. Und das zeigen sie auch öffentlich auf unterschiedlichen Kanälen und Plattformen.

„Die Technologie ist weder eine Triebkraft des Konflikts noch ein Garant für den Sieg. Vielmehr ist sie ein Mittel zur Durchsetzung“, schlussfolgern die Experten.

Ankersen und Martin gehen davon aus, dass die Schlachtfelder der Zukunft ähnlich aussehen könnten wie Afghanistan: „Wir werden weniger rein technologische Konflikte sehen, die vom Militär mit der größten Feuerkraft gewonnen werden, und vielmehr alte und neue Technologien, die zusammen eingesetzt werden“.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Epoch Times Wochenzeitung.



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