Urteil aus Karlsruhe: Wahlrechtsreform von 2020 mit Grundgesetz vereinbar

Im Frühjahr 2023 hat der Bundestag mit den Stimmen der Ampel eine Wahlrechtsreform beschlossen. Beim Bundesverfassungsgericht stand aber erst einmal die Reform der Vorgängerkoalition auf dem Prüfstand. Warum ist das noch relevant?
Erstmals wurde im Bundestag über die von der Bundesregierung geplante Reform des Klimaschutzgesetzes debattiert.
Während einer Sitzung im Bundestag.Foto: Kay Nietfeld/dpa
Epoch Times29. November 2023

Die 2020 unter der großen Koalition beschlossene Wahlrechtsreform ist verfassungsgemäß. Eine Klage der damaligen Oppositionsfraktionen von FDP, Grünen und Linkspartei scheiterte am Mittwoch vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Nach einer neuen Reform aus diesem Jahr ist das Wahlrecht von 2020 zwar weitgehend überholt, der aktuelle Bundestag wurde aber noch auf seiner Grundlage gewählt.

Der zulässige Normenkontrollantrag sei unbegründet, hieß es. Die Reform sei sowohl mit dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot als auch mit den Grundsätzen der Gleichheit und der Unmittelbarkeit der Wahl sowie der Chancengleichheit der Parteien vereinbar.

Die Entscheidung der Karlsruher Richter erging mit 5:3 Stimmen. Die drei Richter, die in der Minderheit waren, gaben ein Sondervotum ab.

Klage wegen stetigem Anstieg der Abgeordneten im Bundestag

Mit der Reform wollte die damals regierende GroKo erreichen, dass die Zahl der Abgeordneten im Bundestag nicht immer weiter steigt. Nach der Regelung, die bei der Bundestagswahl 2021 Anwendung fand, sollte unter anderem kein Vollausgleich von Überhangmandaten mehr stattfinden.

Außerdem wurde die begrenzte Möglichkeit einer Verrechnung der Direktmandate, die eine Partei in einem Bundesland errungen hat, mit Listenmandaten derselben Partei in einem anderen Bundesland eröffnet.

Die damalige Opposition aus Grünen, Linken und FDP hatte gegen die Reform geklagt, mit der Begründung, dass bestimmte Parteien wie die CSU bevorzugen würden. Die Ampel-Koalition hat im vergangenen März eine viel weitreichendere Reform beschlossen.

Wahlrechtsfragen sind auch Machtfragen – und damit politische Streitfragen. Deswegen musste das Bundesverfassungsgericht eine Entscheidung über die Wahlrechtsreform der GroKo von Union und SPD aus dem Jahr 2020 verkünden.

Warum ist das angesichts der neuen Reform noch relevant?

Wegen der vielen Pannen am Wahltag in Berlin soll die Bundestagswahl wiederholt werden. Auch hierzu läuft ein Verfahren in Karlsruhe. Der Beschluss viel am 10. November auf Basis einer Empfehlung eines Wahlprüfungsausschusses.

Konkret geht es um 327 von 2.256 Wahlbezirken sowie um 104 von 1.507 mit ihnen verbundenen Briefwahlbezirken. Die fraglichen Wahlbezirke liegen in allen zwölf Berliner Bundestagswahlkreisen, Wähler sollen dort Erst- und Zweitstimmen erneut abgeben können.

Am 19. Dezember will das Bundesverfassungsgericht verkünden, in wie vielen Wahlbezirken dies zu geschehen hat, und ob es reicht, dabei nur die Zweitstimme abzugeben. Die Wiederholungswahl müsste nach denselben Regeln ablaufen wie die Hauptwahl.

Was könnte das bedeuten?

Es könnte kniffelig werden. Sollten die Änderungen für nichtig und nicht nur für verfassungswidrig erklärt werden, „müsste im Grunde im Fall einer partiellen Wiederholungswahl in Berlin das gesamte Bundestagswahlergebnis noch einmal nach dem alten Wahlrecht von vor 2020 berechnet werden“, erläutert die Politikwissenschaftlerin Sophie Schönberger, die Kläger von Grünen, FDP und Linken vertritt. Damit würde sich der aktuelle Bundestag nochmals vergrößern.

„Eine prinzipiell mögliche Lösung wäre die Anwendung des vor dieser Reform geltenden Rechts“, sagt der Bevollmächtigte des Bundestags, Professor Bernd Grzeszick. Auch käme theoretisch eine Art „Übergangs- oder Notfall“-Wahlrecht in Frage, das der Bundestag nur für diesen Fall erlassen könnte. All diese Szenarien seien aus verschiedenen Gründen aber rechtlich höchst problematisch.

Kann das Urteil auch Folgen für die neue Reform haben?

In Berlin wird das Urteil zur Wahlrechtsreform 2020 genau angeschaut werden. Denn möglicherweise schreiben die Richter ein paar generelle Leitsätze zum Wahlrecht in ihr Urteil, die auch Auswirkungen auf die jüngste Reform haben können.

Gegen diese klagen bereits der Freistaat Bayern und die CSU. Auch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion und die Linke haben Klagen angekündigt. Angenommen, Karlsruhe verwirft die neue Reform, dann käme 2025 möglicherweise das alte Wahlrecht zum Tragen.

Warum wurde das Wahlrecht überhaupt reformiert?

Das Bundeswahlgesetz legte mit der 2002 begonnenen 15. Wahlperiode die Sollgröße des Bundestags auf 598 Abgeordnete fest. Diese Zahl wurde anfangs noch annähernd eingehalten. Von Wahl zu Wahl zogen mehr Abgeordnete ins Reichstagsgebäude ein, 2017 waren es schließlich 709.

Verantwortlich für das Anwachsen des Bundestags auf ein XL-Format waren Überhang- und Ausgleichsmandate. Überhangmandate entstanden, wenn eine Partei mehr Direktmandate gewann, als ihr nach dem Zweitstimmen-Ergebnis Sitze zustanden. Diese durfte sie behalten, die anderen Parteien erhielten dafür aber Ausgleichsmandate. Alle Parteien plädierten für eine Verkleinerung, fanden jedoch keinen gemeinsamen Nenner.

Wie sah die Wahlrechtsreform 2020 aus?

Die Wahlrechtsreform der GroKo bestand aus zwei Teilen. Der erste Teil kam schon 2021 zur Anwendung, der zweite Teil sollte erst für die Wahl 2025 gelten. Schon für 2021 wurde festgelegt, dass Überhangmandate einer Partei teilweise mit ihren Listenmandaten in anderen Ländern verrechnet werden sollen. Beim Überschreiten der Regelgröße von 598 Sitzen sollen bis zu drei Überhangmandate nicht durch Ausgleichsmandate kompensiert werden.

Nicht angetastet wurde dagegen die Zahl der 299 Wahlkreise. Diese sollten erst im zweiten Schritt ab 2024 auf 280 verringert werden. Außerdem sollte nach der Bundestagswahl 2021 eine Reformkommission zu Fragen des Wahlrechts eingesetzt werden.

Was bedeutet das neue Wahlrecht?

Bei der mündlichen Verhandlung im April ging es stark um die Frage, ob die Wähler überhaupt noch durchschauen, wie sich ihre Stimme auswirkt. Das neue Wahlrecht begrenzt die Zahl der Sitze im Bundestag auf 630. Um das zu erreichen, gibt es keine Überhang- und Ausgleichsmandate mehr. Entscheidend für die Stärke einer Partei im Parlament ist allein ihr Zweitstimmenergebnis.

Auch die Grundmandatsklausel fällt weg. Nach ihr zogen Parteien auch dann in der Stärke ihres Zweitstimmenergebnisses in den Bundestag ein, wenn sie unter fünf Prozent lagen, aber mindestens drei Direktmandate gewannen. Jede Partei, die in den Bundestag will, muss künftig bundesweit mindestens fünf Prozent der Zweitstimmen bekommen.

Was hat die Reform von 2020 überhaupt gebracht?

Nicht viel. Kritiker bemängelten von Anfang an, dass es sich nur um ein Reförmchen mit geringer Wirkung handele. Der Bundestag wurde nicht kleiner, sondern nochmals größer. Seit der Wahl 2021 umfasst er 736 Abgeordnete. Für Wahlrechtsexperten steht allerdings fest, dass der Bundestag bei einem nur minimal anderen Wahlverhalten der Bürger noch viel größer hätte werden können. Robert Vehrkamp von der Bertelsmann Stiftung hielt kurz vor der Wahl sogar einen Bundestag mit gut 1000 Abgeordneten für möglich.

FDP, Grüne und Linke, die bei der Verabschiedung der GroKo-Reform in der Opposition waren, hatten sich auf einen eigenen Gesetzentwurf verständigt, der erheblich mehr Wirkung gehabt hätte. Nach ihm sollte zum Beispiel die Zahl der Wahlkreise von 299 auf 250 verringert werden. Sie reichten im Februar 2021 in Karlsruhe eine sogenannte abstrakte Normenkontrolle ein, um die Wahlrechtsreform von Union und SPD auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz zu überprüfen.

Sind die Kläger damit noch glücklich?

Nein. FDP, Grüne und Linke hätten ihre Klage angesichts der Reform der Ampel-Koalition lieber ad acta gelegt. Die 216 Abgeordneten, die einst den Normenkontrollantrag eingereicht hatten, beantragten Mitte März, das Verfahren ruhen zu lassen. Vergeblich. Es bestehe ein „erhebliches Interesse“ an der Feststellung, ob der aktuelle Bundestag auf Grundlage eines verfassungsgemäßen Wahlrechts zustande gekommen sei, sagte Vizegerichtspräsidentin Doris König bei der mündlichen Verhandlung. (dpa/dts/ks)



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