„Geraubte Kinder im Südwesten“ – Baden-Württemberg zahlt Opfern von NS-Rassenprogramm Entschädigung

In den Jahren ab 1942 wurden im Auftrag der SS Kinder in den besetzten mittel- und osteuropäischen Gebieten Kinder zur Zwangseindeutschung nach Deutschland gebracht. Seit Dezember 2022 konnten diejenigen von ihnen, die in Baden-Württemberg leben, eine Entschädigung durchs Land erhalten. Die Landesregierung zog nun eine erste Bilanz.
Titelbild
Deutsche Schulkinder essen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, Wetzlar, Deutschland, etwa 1945–1948, ihre Lebensmittelrationen. Das waren etwa 300 Kalorien pro Tag.Foto: European/FPG/Getty Images
Von 18. Juli 2023

Ende letzten Jahres startete die Landesregierung von Baden-Württemberg unter dem Titel „Geraubte Kinder im Südwesten“ ein Programm zur Entschädigung von Menschen, die als Kind oder Säugling von den Nationalsozialisten aus den besetzten Ostgebieten verschleppt wurden. Betroffene sollten 78 Jahre nach Kriegsende „möglichst direkt und unbürokratisch ein Zeichen der Anteilnahme und der Wiedergutmachung“ erhalten.

Die als Kinder im Rahmen der Rassenpolitik der Nationalsozialisten verschleppten und jetzt in Baden-Württemberg lebenden Betroffenen erhielten daraufhin eine Einmalzahlung von 5.000 Euro pro Person. Sie wurde aus Mitteln für übergesetzliche Wiedergutmachungsleistungen entschädigt.

Jetzt, ein halbes Jahr nach dem Aufruf, sich zu melden, und dem Start der Initiative zieht die Landesregierung eine erste Bilanz.

„Es konnten erste Zahlungen an Personen geleistet werden, die während der NS-Diktatur als Kinder oder Säuglinge von den Nationalsozialisten im Rahmen ihrer Rassenpolitik in den besetzten Gebieten geraubt worden waren“, heißt es.

Staatssekretär: Wiedergutmachung Sache des Bundes

„Ich bin sehr froh, dass wir uns des Themas haben annehmen können, sich Personen gemeldet haben und wir in ersten Fällen haben auszahlen können“, betonte Staatssekretär Florian Hassler.

Sowohl die Landesregierung als auch der Petitionsausschuss des Landtags von Baden-Württemberg betrachten ein Aufwiegen des durch die Gräueltaten des NS-Regimes erlittenen Unrechts mit finanziellen Mitteln jedoch als nicht möglich. Daher wird bilanziert:

„Wichtig ist uns insbesondere, hinzuhören und die persönlichen Schicksale zu würdigen, wahrzunehmen und zu dokumentieren. Die Betroffenen sollen ein Zeichen der Anteilnahme vonseiten des Landes erhalten.“ Sie könne jedoch nicht mehr als eine symbolische Geste sein – wenn auch eine wichtige, so Staatssekretär Hassler weiter.

Eine Wiedergutmachung des von der NS-Diktatur begangenen Unrechts sei Sache des Bundes. „Dennoch hat sich das Land Baden-Württemberg entschieden, Kindern, die zum Zwecke der Germanisierung geraubt wurden und in das Staatsgebiet des heutigen Baden-Württemberg gebracht wurden, eine symbolische Entschädigung zu leisten“, führt Hassler aus. „Wichtig ist uns insbesondere, hinzuhören und die persönlichen Schicksale zu würdigen, wahrzunehmen und zu dokumentieren. Die Betroffenen sollen ein Zeichen der Anteilnahme vonseiten des Landes erhalten.“

Fünf Personen erhielten Zahlungen

Angestoßen wurde das Thema durch das langjährige Engagement des Vereins „Geraubte Kinder – Vergessene Opfer e. V.“, der unter anderem eine Petition an den Landtag von Baden-Württemberg gerichtet hatte. „Der Petitionsausschuss kam zu der Auffassung, dass hier geholfen werden muss, und schlug dem Landtag einstimmig vor, die Petition zur Erwägung an die Regierung zu überweisen“, berichtete Thomas Marwein, Vorsitzender des Petitionsausschusses.

Beim Staatsministerium gingen bislang 13 Anträge ein. Fünf Personen konnten im Rahmen des Programms berücksichtigt werden und erhielten eine Einmalzahlung in Höhe von 5.000 Euro. Abgelehnt werden mussten acht Anträge, die das Landesprogramm ausdrücklich nicht ansprechen konnte, weil beispielsweise der Baden-Württemberg-Bezug fehlte oder andere Kriterien nicht erfüllt waren.

Zur Durchführung des Programms hat das Staatsministerium eine sechsköpfige Fachkommission berufen. Mitglieder sind neben Vertretern der Landeszentrale für politische Bildung und des Finanz- und Staatsministeriums auch die spezialisierten Historikerinnen und Historiker Professorin Dr. Isabel Heinemann (Universität Bayreuth), Dr. Dorothee Neumaier (Fernuniversität Hagen) und Dr. Dr. Georg Lilienthal (ehemaliger Leiter der Gedenkstätte Hadamar).

Die Kommission prüft die vorliegenden Anträge. „Das Ziel der bestmöglichen Klärung und Dokumentation der Sachlage hat sich nicht immer erreichen lassen, und nicht alle Fälle ließen sich lückenlos aufklären“, heißt es dazu in einer Mitteilung.

Geraubte Kinder des SS-Vereins „Lebensborn“

In den Jahren ab 1942 wählten SS-Rasseexperten im Auftrag des Reichsführers Heinrich Himmler vor allem in den besetzten mittel- und osteuropäischen Gebieten Kinder nach „rassischen“ Kriterien zur Zwangseindeutschung aus. Viele von ihnen wurden ihren Familien aus dem heutigen Polen oder Slowenien geraubt und leben zum Teil bis heute ohne abschließende Aufklärung der Umstände ihrer Verschleppung in Deutschland oder wurden erst Jahre später in ihre Heimat repatriiert.

Der SS-Verein „Lebensborn“ übernahm die Betreuung der Kinder. Sie wurden nach eingehenden Untersuchungen in das Deutsche Reich gebracht und meist linientreuen Familien zur Adoption gegeben. Man zwang sie, Deutsch zu lernen, und Papiere und Herkunftsdokumente wurden dann oftmals gefälscht und vernichtet.

Die Eltern und Familien wurden nicht selten umgebracht oder in Konzentrationslager gebracht. Als Opfergruppe der Nationalsozialisten wurden die geraubten Kinder außergewöhnlich spät anerkannt, zahlreiche haben von ihrer Herkunft erst spät oder gar nicht erfahren. Eine gesetzliche Wiedergutmachung gab es nicht.

Derzeit wird von rund 50.000 Kindern ausgegangen, die geraubt und „zwangsgermanisiert“ wurden, manche gehen aber auch von einer weit höheren Anzahl an betroffenen Kindern aus. Wie viele Kinder damals nach Baden-Württemberg gebracht wurden beziehungsweise heute noch in Baden-Württemberg leben, ist nicht bekannt.

Um im Rahmen des jetzigen Programms eine Einmalzahlung zu erhalten, müssen die Betroffenen sich direkt beim Staatsministerium melden. Anschließend müssen sie in „geeigneter Weise“ nachweisen, dass sie entweder durch das NS-Regime in das Gebiet des heutigen Baden-Württemberg verschleppt und in eine Familie in diesem Gebiet gegeben wurden oder deren Wohnort sich in Baden-Württemberg befindet.

Das Programm bleibt geöffnet und bietet weiterhin die Möglichkeit, unter [email protected] Anträge einzureichen, erklärt die Landesregierung: „Viele Personen haben erst sehr spät von ihrer Herkunft erfahren, viele Fragen bleiben unbeantwortet, viele Identitäten immer noch ungeklärt“, so Staatssekretär Hassler.



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