„Islamistische Radikalisierung im Justizvollzug“ – Verfassungsbeschwerde zum Quellenschutz gescheitert

Ein Erlanger Psychologieprofessor hatte sich vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die polizeiliche Beschlagnahmung vertraulicher Protokolle eines Studienteilnehmers gewehrt – und verloren. Das BVerfG sah einen Formfehler bezüglich der Beschwerdefrist.
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Inhaltlich hatte das Bundesverfassungsgericht wenig auszusetzen an der Argumentation eines bayerischen Psychologieprofessors, formal aber schon. Seine Verfassungsbeschwerde wurde deshalb vom BVerfG in Karlsruhe abgewiesen. (Archivbild).Foto: ULI DECK/dpa/AFP via Getty Images
Von 25. Oktober 2023

Die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) hat eine Verfassungsbeschwerde des Erlanger Professors für Psychologie Dr. Mark Stemmler nicht zur Entscheidung angenommen.

„Die Verfassungsbeschwerde genügt nicht den aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG folgenden Begründungsanforderungen hinsichtlich der Fristwahrung“, hieß es in dem zugrundeliegenden Beschluss. Dieser war bereits am 25. September gefällt worden. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hatte den Sachverhalt am 20. Oktober in einer Pressemitteilung bekannt gegeben.

Der Beschluss (Az. 1 BvR 2219/20) ist nach Angaben des Verfassungsgerichts „unanfechtbar“.

Der Hochschullehrer muss nun damit leben, dass er das Versprechen an einen Interviewpartner, seine Aussagen vertraulich zu behandeln, nicht halten konnte. Außerdem muss der Psychologe hinnehmen, dass seine Räume am Lehrstuhl für Psychologische Diagnostik, Methodenlehre und Rechtspsychologie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg von der Polizei durchsucht und dabei Unterlagen beschlagnahmt worden waren, um Belastungsmaterial über diesen Interviewpartner zusammenzutragen.

Dieser Mann, ein nach Informationen des Oberlandesgerichts (OLG) München wegen „mehrerer Betäubungsmitteldelikte“ verurteilter Gefängnisinsasse, habe dem Lehrstuhl als Informationsquelle für eine Studie gedient. Dafür habe „eine wissenschaftliche Mitarbeiterin des Lehrstuhls“ in der „JVA B.“ mit dem Strafgefangenen gesprochen und Tonaufzeichnungen angefertigt. Das Forschungsprojekt habe sich um das Thema „Islamistische Radikalisierung im Justizvollzug – Radikalisierungspotentiale und -prozesse“ gedreht. Die Studie war nach Informationen des OLG München mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert worden.

Psychologieprofessor pochte auf Schutz der Verschwiegenheitsklausel

Zum Konflikt zwischen dem Hochschullehrer Stemmler und den Ermittlungsbehörden war es nach Darstellung des OLG München gekommen, nachdem das Bayerische Landeskriminalamt (BayLKA) Tonmitschnitte und Gesprächsprotokolle der Interviews mit dem inhaftierten Studienteilnehmer angefordert hatte. Der Mann habe im Verdacht gestanden, Mitglied der Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“ zu sein und sich eines Waffendelikts schuldig gemacht zu haben.

Der Professor habe sich jedoch geweigert, für weitergehende Ermittlungen die Audiodateien und Transkripte herauszurücken, weil er seinem Gesprächspartner – wie auch jedem anderen Teilnehmer der Interviewstudie – Verschwiegenheit zugesichert habe. Außerdem sei die Studie noch nicht abgeschlossen gewesen, berichtet das BVerfG.

OLG sah kein Zeugnisverweigerungsrecht

Die zuständige Ermittlungsrichterin am OLG München habe sich jedoch davon nicht beeindrucken lassen und die Durchsuchung des Lehrstuhls nebst Beschlagnahmung von Beweismitteln am 23. Januar 2020 trotzdem angeordnet, heißt es im Beschluss des OLG vom 28. Juli 2020 (Az.: 8 St ObWs 5/20). Am 31. Januar 2020 habe das BayLKA die Lehrstuhlräume durchsucht, „einen Datenträger mit Audio-Dateien“ beschlagnahmt und Kopien von zwei Schriftstücken angefertigt.

Stemmler habe darin einen unzulässigen Eingriff in sein Grundrecht auf Wissenschafts- und Forschungsfreiheit gesehen, auf sein Zeugnisverweigerungsrecht nach Paragraph 53 Abs. 1 Nr. 5 der Strafprozessordnung (StPO) gepocht und dementsprechend Beschwerde beim OLG eingereicht.

Diese sei jedoch erfolglos geblieben: Das OLG vertrat laut Bundesverfassungsgericht die Meinung, dass der Hochschullehrer kein Zeugnisverweigerungsrecht besitze. Die Forschungsfreiheit allein begründe weder ein Zeugnisverweigerungsrecht, „noch folge aus ihr ein Durchsuchungs- und Beschlagnahmeverbot“, zitiert das BVerfG. Der verbale Austausch mit dem mutmaßlichen Terroristen sei zudem bereits beendet gewesen, die Forschungstätigkeit des Professors nach Auffassung des OLG von daher „nicht behindert worden“. Gefährdet sein könnten allenfalls zukünftige, ähnliche Forschungsprojekte, „falls potenzielle Interviewpartner nun ihre Teilnahme verweigerten“. Doch diese Annahme fuße lediglich auf einer „bloße[n] nicht konkretisierte[n] Erwartung“. Weiter habe das OLG wie folgt argumentiert:

Selbst wenn dennoch eine Abwägung zwischen der Forschungsfreiheit einerseits und dem Strafverfolgungsauftrag andererseits geboten sein sollte, fiele die Abwägung zu Lasten der Forschungsfreiheit aus.“

Daraufhin habe der Psychologieprofessor unter Berufung auf Artikel 5 Abs. 3 Satz 1 des Grundgesetzes über seinen Rechtsbeistand Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe einreichen lassen. Doch das BVerfG nahm die Beschwerde unter Verweis auf die Beschwerdefrist nicht an:

Der Bevollmächtigte des Beschwerdeführers hat die Verfassungsbeschwerde mehr als einen Monat nach dem Datum der Beschwerdeentscheidung, durch deren Zugang oder formloser Mitteilung die Verfassungsbeschwerdefrist in Gang gesetzt wurde (vgl. § 93 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG), erhoben. […] Vorliegend ergibt sich weder aus den vorgelegten Unterlagen noch aus dem Beschwerdevorbringen ohne Weiteres, wann die letztinstanzliche Entscheidung zugegangen ist. Der Bevollmächtigte des Beschwerdeführers verweist zur Darlegung des Zugangszeitpunktes auf einen Eingangsstempel seiner Kanzlei, der jedoch auf der vorgelegten Ausfertigung der Beschwerdeentscheidung des Oberlandesgerichts nicht zu finden ist.“

BVerfG: „Erhebliche Bedenken in der Sache“

„In der Sache bestehen jedoch erhebliche Bedenken hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Entscheidungen“, räumte das BVerfG ein. Denn das OLG München habe „Gewicht und Reichweite der Forschungsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) nicht angemessen berücksichtigt“. In seinen weiteren Ausführungen legte das BVerfG einige Gründe dar, die seine Bedenken untermauern.

So gehöre die „vertrauliche Datenerhebung“, wie sie das Team Stemmler vorgenommen habe, grundsätzlich „zur geschützten wissenschaftlichen Methode“: Wer die Vertraulichkeit aufhebe, erschwere oder verunmögliche „insbesondere Forschungen, die, wie das hier betroffene Forschungsprojekt, auf vertrauliche Datenerhebungen angewiesen“ seien.

Rüffel für OLG München

Auch die OLG-Sichtweise, nach der die Forschungsfreiheit im vorliegenden Fall „nur unerheblich beeinträchtigt worden“ sei, teilt das BVerfG nicht. Das oberste deutsche Gericht meint vielmehr, dass das OLG München „die Auswirkungen auf das konkrete Forschungsprojekt, aber auch die Folgen für die Wissenschaftsfreiheit darüber hinaus nicht angemessen“ erfasst habe.

Speziell im vorliegenden Fall habe es einer Abwägung zwischen den Interessen der Forschung und jenen der Strafrechtspflege bedurft, meint das BVerfG. „Eine effektive Verhinderung von Straftaten“ aber setze „genau jene Forschung voraus“, wie sie nun um der „konkreten Strafverfolgung“ willen „erschwert“ oder sogar „verunmöglicht“ worden sei.

Richtungweisende Worte?

Dass das Verfassungsgericht inhaltlich also gar nicht so viel an Stemmlers Argumentation auszusetzen hatte, freut den Psychologen:

„Auch wenn das Bundesverfassungsgericht die Beschwerde nicht angenommen hat, ist es doch keine totale Niederlage“, sagte Stemmler im Telefonat mit der Epoch Times. „Wenn man sich die inhaltlichen Bedenken der Richter anschaut, dürfte es in Zukunft schon etwas schwerer für andere Staatsanwaltschaften werden, Wissenschaftlern die Räume zu durchsuchen.“

Anwalt: „Kleinlicher geht es nicht“

Das sieht sein Anwalt Prof. Helmut Pollähne ähnlich: Der aktuelle Beschluss sei „in der Sache ein wichtiger Beitrag zur Stärkung der Wissenschafts- und Forschungsfreiheit, gerade auch gegenüber Strafverfolgungsbehörden“, schrieb der Jurist in einer ersten Stellungnahme, die der Epoch Times vorliegt. Andererseits sei er erstaunt darüber, dass das BVerfG sich bei der Nicht-Annahme auf eine Fristverletzung berufen habe. Denn in Wahrheit sei „die Einhaltung der Frist […] hinreichend substantiiert dargelegt“ worden. Lediglich das „Anschreiben des OLG München, auf dem sich der Eingangsstempel befindet“, sei nicht vorgelegt worden. Pollähne:

Diese Anlage hätte jederzeit nachgefordert werden können, hätte das BVerfG ernsthafte Zweifel am Vortrag des Beschwerdeführers bzw. seines Rechtsanwalts gehegt, wozu keinerlei Anlass bestand! Kleinlicher geht es nicht.“

Dass das Verfassungsgericht „in die materielle Prüfung einsteigt, nachdem zahlreiche Stellungnahmen eingeholt wurden, um dann doch noch zu der Auffassung zu gelangen, die Verfassungsbeschwerde sei unzulässig, erweist sich zudem als höchst widersprüchlich“, meinte der Rechtsprofessor.

KORREKTURHINWEIS: In einer früheren Fassung des Artikels war davon die Rede, dass die Verfassungbeschwerde „zu spät eingereicht“ worden sei. Das war eine zu stark vereinfachende Darstellung des tatsächlichen Sachverhalts. Die Epoch Times bittet um Entschuldigung.



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