Starker Anstieg seit 2015: Dutzende Professoren im deutschsprachigen Raum entlassen

Seit 2000 sind in Österreich, der Schweiz und Deutschland fast 50 ordentliche Professoren ohne ausreichende Begründung ihres Dienstes enthoben worden – der Löwenanteil darunter seit 2015. Auch die Corona-Jahre brachten noch einmal einen Schub.
Titelbild
Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot (Archivbild) will nicht hinnehmen, dass die Uni Bonn ihr im Februar 2022 den Stuhl vor die Tür gestellt hat. Sie ist nur eine von dutzenden „gecancelten“ Akademikern der vergangenen Jahre.Foto: Sean Gallup/Getty Images
Von 29. Juli 2023

Seit einigen Jahren kann in Deutschland einem schon die „falsche“ Meinung schnell zum Verhängnis werden. Die „Cancel Culture“, also der Ausschluss eines Menschen aufgrund einer kontroversen Meinung, eines anderen Weltbildes oder seiner Kontakte, hat sich nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen westlichen Ländern verbreitet.

Immer mehr fragwürdige Entlassungen an Unis

Allein in den Universitäten Deutschlands, Österreichs und der Schweiz verloren 19 ordentliche Professoren zwischen 2000 und Juni 2020 ihre Stelle, ohne dass der Rausschmiss mit „straf- oder dienstrechtlich kodifizierte[n] Begründungen“ erklärt worden wäre. Das geht aus einer Studie der Hochschullehrerinnen Prof. Dr. Heike Egner und Prof. Dr. Anke Uhlenwinkel hervor („Entlassung und öffentliche Degradierung von Professorinnen. Eine empirische Analyse struktureller Gemeinsamkeiten anscheinend unterschiedlicher ‚Fälle‘“, 2021, PDF). Die Fälle hätten seit 2015 zugenommen, heißt es in dem Papier.

Bis April 2023 sind offenbar noch mindestens weitere 28 Fälle dazugekommen. Der Journalist Patrick Baab, selbst zwischenzeitlich Zielscheibe der Universitätsleitung in Kiel, hatte die Studie von Egner und Uhlenwinkel in einem Interview mit dem „Overton-Magazin“ erwähnt. Dabei sprach er von „47 Ordinarien“, die mittlerweile gezählt worden seien.

Baab, Egner, Uhlenwinkel und eine Reihe von Leidensgenossen hatten sich am 5. Juni 2023 online versammelt, um über das Thema zu sprechen. Mit dabei waren laut Videobeschreibung Andreas Sönnichsen, Martin Schwab, Michael Esfeld, Günter Roth, Ulrike Guérot und Michael Meyen. Auf YouTube ist ein sechsminütiger Zusammenschnitt zu sehen. Schon länger gibt es einen eigenen Twitter-Kanal, in dem entlassene Professoren ihre Erfahrungen schildern können.

Hohe „Dunkelziffer“ zu befürchten

„In keinem einzigen Fall wurde die Unschuldsvermutung zugrunde gelegt“, erläuterte Baab im Gespräch mit Roberto De Lapuente. Er geht von einer „noch viel größeren Dunkelziffer“ zu Unrecht entlassener Universitätsbeschäftigter aus. Denn „die Lehrbeauftragten und wissenschaftlichen Mitarbeiter“, die womöglich auch gecancelt wurden, seien in der Studie gar nicht beachtet worden.

Baab nannte einen prominenten Fall: Die Politikwissenschaftlerin und Europa-Expertin Prof. Dr. Ulrike Guérot sei von der Universität Bonn vor die Tür gesetzt worden, ohne vorher abgemahnt worden zu sein.

Europa-Expertin wehrt sich gegen Arbeitgeber – Plagiatsvorwürfe im Raum

Die Unileitung hatte die Entlassung Guérots zum 31. März 2023 offiziell mit Plagiaten in mehreren Sachbüchern erklärt, wie der „Bayerische Rundfunk“ (BR) im Februar 2023 berichtete. Guérot selbst aber gehe davon aus, dass ihre „umstrittenen Positionen zu Brexit, Corona-Pandemie und Ukraine-Krieg“ der wahre Grund waren. Nach Angaben des „Spiegel“ hatte Guérot den Ukraine-Krieg in ihrem Text „Endspiel Europa“ unter anderem als „lang vorbereitete[n] amerikanische[n] Stellvertreterkrieg“ beschrieben.

Guérot selbst habe zugegeben, wahrscheinlich nicht genug Sorgfalt beim Schreiben ihrer Bücher „Warum Europa eine Republik werden muss! Eine politische Utopie“ (2016) und „Wer schweigt, stimmt zu“ (2022) walten gelassen zu haben: „Ich bin tatsächlich – und habe kein Problem damit, das zuzugeben – eher originell oder ‚geistreich‘ als sorgfältig (kann man beides sein?)“, so der „Spiegel“ unter Berufung auf den „ZEIT“-Journalisten Ijoma Mangold. Bei den beanstandeten Texten handele es sich aber nicht um „wissenschaftliche Veröffentlichungen“.

Die Uni Bonn ließ sich von diesem Argument aber nicht beeindrucken: Guérots Europa-Bestseller habe schließlich auch bei ihrer Berufung an die Hochschule im Jahr 2021 eine Rolle gespielt. Der „Plagiatsjäger“ Dr. Stefan Weber fand unterdessen etliche Beispiele für unsaubere Arbeit in Guérots Texten.

Guérot wehrte sich trotzdem gegen ihre Kündigung und zog nach Informationen des „Spiegel“ vor das Arbeitsgericht Bonn. Ein Gütetermin am 28. April brachte keine Lösung, wie Guérot selbst in einem YouTube-Video vom 1. Juli 2023 im Gespräch mit dem Historiker Daniele Ganser bestätigte. Ihr Streit mit der Uni Bonn soll nun am 25. Oktober 2023 in erster Instanz verhandelt werden.

Wegweisendes Urteil aus Kiel?

Patrik Baab geht nun davon aus, dass sein eigener Sieg vor dem Verwaltungsgericht Schleswig-Holstein, den er gegen die Christian-Albrechts-Universität Kiel (CAU) errungen hatte und der erst vor wenigen Tagen rechtskräftig geworden war, die Chancen von Guérot und anderen Professoren erhöhen könnte, ebenfalls zu ihrem Recht zu kommen.

„Andere Journalisten und Hochschullehrer, die nicht immer der herrschenden Meinung folgen wollen, können sich auf dieses Urteil berufen“, meinte Baab im „Overton-Magazin“: „Hochschulen dürfen sich nicht als Wahrheitsverkünder oder Gesinnungs-TÜV aufspielen.“

„Regress in die Geisteshaltung der Gegen-Aufklärung“

In den vergangenen Jahren habe er den Eindruck gewonnen, so Baab, dass die Universitäten „teilweise wieder hinter das Bildungsideal der Aufklärung zurückgefallen“ seien. Er beobachte einen „beeindruckenden Regress in die Geisteshaltung der Gegen-Aufklärung“. Antidemokratisches Denken werde heute ausgerechnet „in akademischen Kreisen“ kultiviert. So sei es auch schon zu Zeiten der Weimarer Republik gewesen, mahnte Baab. „Meist merken diese Leute selbst nicht, wie tief sie in das Propagandasystem verstrickt sind“, gab er zu bedenken.

Dies ist tatsächlich der Zustand der bürgerlichen Öffentlichkeit heute: Sie ist nicht mehr demokratisch, nicht mehr inklusiv, sondern degeneriert zu einer Zensur- und Denunziations-Öffentlichkeit. Der größte Teil der Presse hat sich durch das Nachplappern staatlicher Kriegspropaganda nicht nur vollständig kompromittiert, sondern auch seine Halbbildung unter Beweis gestellt. Das wird diesen Organen noch auf die Füße fallen: Viele Nutzer wenden sich jetzt schon mit Grausen ab.“ (Patrick Baab)

Baabs Eindrücke von seiner Recherchereise in die Ukraine, die ihm den Unmut seiner Hochschule eingebracht hatten, werden voraussichtlich im Herbst 2023 unter dem Titel „Auf beiden Seiten der Front. Meine Reisen in die Ukraine“ im Westend Verlag erscheinen.

Einsatz für Frieden kann den Job kosten

Baab und Guérot vertreten zum Ukraine-Krieg eine ähnliche Meinung wie der Politologe Prof. Dr. Johannes Varwick, nämlich beide Perspektiven anzuschauen, bevor man ein Urteil fällt. Auch Varwick verlor kürzlich seinen Nebenjob bei der Deutschen Rentenversicherung Bund, allerdings sogar ganz offiziell wegen seiner „Positionierung im Krieg gegen die Ukraine“.

Varwick und Guérot hatten übrigens beide das „Manifest für Frieden“ aus der Feder von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer unterzeichnet, um für diplomatische Bemühungen zur Beendigung des Krieges an Stelle von Waffenlieferungen zu werben.

Der Einsatz für einen schnellen Frieden, um immer mehr Tote auf beiden Seiten zu vermeiden, kommt aber offensichtlich nicht mehr überall gut an. Nach Informationen der „Süddeutschen Zeitung“ zog Varwick seine Unterstützung Ende Februar 2023 wieder zurück, „weil ihm bei der Berliner Kundgebung dazu die Abgrenzung gegenüber Rechtsextremen und Russlandunterstützern ‚zu wenig‘“ gewesen sei.

Mittlerweile schlossen sich mehr als 847.000 Menschen der Friedenspetition auf „Change.org“ an. Erreicht wurde nichts. Im Gegenteil: In der Ukraine spitzt sich die Lage immer weiter zu. Neuerdings verwenden beide Seiten offenbar auch international geächtete Streumunition. Große Teile der Bundesregierung und sogar der Bundespräsident nehmen es trotz anderslautender Verpflichtung aus der „Oslo-Übereinkunft“ hin.

Noch ein Abweichler im Visier

Ein weiterer aktueller „Cancel Culture“-Fall dreht sich um den Kommunikationswissenschaftler Prof. Dr. Michael Meyen von der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Die Landesanwaltschaft Bayern hatte Mitte Juli 2023 ein Disziplinarverfahren gegen ihn eingeleitet. Ihm droht nun die Entlassung aus dem Beamtenverhältnis. Die offiziellen Hintergründe sind unklar. Meyen hatte sich zeitweilig als Mitherausgeber der regierungskritischen Wochenzeitung „Demokratischer Widerstand“ betätigt.



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