Der „blinde Fleck“ bleibt unerkannt: Spiegel veröffentlicht Untersuchungsergebnisse zu 28 Relotius-Texten

Der Spiegel Online veröffentlichte in einer fortlaufenden Liste, die weiter aktualisiert wird, die Untersuchungsergebnisse zu den Texten von Claas Relotius. Allerdings fehlt bis jetzt eine Auseinandersetzung mit dem "blinden Fleck" des Spiegels.
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"Sagen, was ist", soll das Credo des SPIEGEL-Gründers Rudolf Augstein gewesen sein und nach eigenen Aussagen auch heute noch im Mittelpunkt der journalistischen Arbeit stehen.Foto: Thomas Lohnes/Getty Images
Von 28. Januar 2019

Viele der in den vergangenen Jahren rund 60 Texte von Claas Relotius (33) die bei Spiegel erschienen sind, haben sich in wesentlichen Teilen als gefälscht herausgestellt, schreibt der Spiegel und listet zunächst 28 Texte auf, die durch eine hausinterne Kommission überprüft wurden. Doch auch hier fehlt eine klare Aussage dazu, wie über Jahre hinweg es überhaupt dazu kommen konnte, dass falsche Darstellungen veröffentlicht wurden.

Ein Blick in die Geschichten von Relotius zeigt allerdings auf, worin das Grundproblem liegt. Hier ein paar Auszüge aus den Rechercheergebnissen der internen Untersuchungskommission.

Relotius: „Wer nicht aufaß, musste das Essen vom Boden auflecken“

Zum Artikel „Heim in die Hölle“, einer Geschichte über eine Anstalt für schwer erziehbare Jugendliche in Marianna im US-Bundesstaat Florida heißt es:

„Der Text beginnt schon mit einer Übertreibung: Wer nicht aufaß, habe das Essen vom Boden auflecken müssen, schreibt Relotius.“ Diese Schikane gäbe es laut einem ehemaligen Insassen der Anstalt namens Cooper nicht, berichtet der Spiegel.

Ein historischer Klassenraum. Foto: iStock

Und weiter: Über dem alten Eingangstor hinge noch das große, rostige Schild mit den Mahnungen, die jeden Jungen erwarteten würde, der in die Anstalt von Marianna kam, schrieb Relotius in dem Artikel. Und er zählte auf: „Du sollst nicht länger eine Gefahr für die Gesellschaft sein. Du sollst lernen, dich an Regeln zu halten. Du sollst daran arbeiten, ein aufrechter und guter Mensch zu werden“.

Laut dem Spiegel dürften viele Leser bei dieser Beschreibung des Anstaltsgeländes an den Eingang eines KZ gedacht haben. In Wirklichkeit hätte es laut Cooper dieses Schild nie gegeben.

Auch „Händler am Straßenrand“, die angeblich Antiquitäten aus der ehemaligen Anstalt anbieten würden wie „Stühle, Eisenketten, angebliche Folterbänke, die aus dem Erziehungsheim stammen und Auswärtigen als schaurige Souvenirs dienen sollen“, gäbe es demnach nicht.

Spiegel: „Dieser Text enthält eindeutig Fälschungen“

Im Artikel „Königskinder“ berichtet Relotius über die syrischen Kinder Ahmed und Alin, die 12 und 13 Jahre alt und Geschwister sein sollen. Nach Relotius Schilderungen sind die Eltern in Syrien ums Leben gekommen, die Kinder in die Türkei geflohen und arbeiten nun, getrennt voneinander, als Schrottsammler und Näherin in Anatolien.

Spielende syrische Mädchen. Foto: Aaref WATAD / AFP / Getty Images

Das Zeugnis, das die beiden ablegen, sei, so schreibt Relotius in dem Text, „so lebendig und wahrhaftig, wie nur Kinder erzählen können“. Die Überprüfung durch den Spiegel ergibt allerdings: „Dieser Text enthält eindeutig Fälschungen.“ Und der Spiegel gesteht ein, das ihm selbst schon Widersprüche und Unstimmigkeiten vor der Veröffentlichung hätten stutzig machen können.

Warum aber sind die Unstimmigkeiten nicht früher aufgefallen?

Warum aber sind die Unstimmigkeiten nicht früher aufgefallen? Das wird anhand von Aussagen der Menschen, die mit Relotius eng zusammenarbeiteten, deutlich. So erklärt der Print-Chef und designierte Chefredakteur Ullrich Fichtner der einer der stärksten Förderer von Relotius gewesen sein soll:

„Als Redakteur, als Ressortleiter, der solche Texte frisch bekommt, spürt man zuerst nicht Zweifeln nach, sondern freut sich über die gute Ware. Es geht um eine Beurteilung nach handwerklichen Kriterien, um Dramaturgie, um stimmige Sprachbilder. Es geht nicht um die Frage: Stimmt das alles überhaupt? Und dieser Relotius liefert immer wieder hervorragende Geschichten, die wenig Arbeit und viel Freude machen“.

Clemens Höges, neuer Blattmacher des Nachrichtenmagazins, erklärt in einer Stellungnahme zum Fall Relotius:

„Manche sagen nun, die Affäre habe ja wohl auch mit dem Willen Relotius’ zu tun, um jeden Preis schöne Geschichten zu erzählen, schöner oft als die Wirklichkeit. Geschichten, die Preise gewinnen. Eine fatale Sucht, glauben Kritiker, gerade im Gesellschaftsressort, das viele Geschichten hervorbringt, die Preise gewinnen. Und deshalb dürfe es bei der Aufklärung nicht um Schönheit gehen, sondern ausschließlich um Präzision bei den Fakten. Aber schadet es, sie gut geschrieben darzustellen?“

Wenn die „schöne Geschichte“ nicht den Tatsachen entspricht dann ist es eine Fantasiegeschichte. Foto: iStock

Dagegen, dass Fakten sprachlich schön dargestellt werden, ist nichts einzuwenden. Doch rechtfertigt eine schöne Sprache das Tatsachen falsch wiedergegeben werden?

Spiegel: „Alle Quellen sind trüb. Vieles ist wohl erdacht, erfunden, gelogen“

Relotius erhielt den Deutschen Reporterpreis 2018 für eine Reportage über einen syrischen Jungen, der im Glauben lebt, durch einen Kinderstreich den Bürgerkrieg im Land mit ausgelöst zu haben. Die Juroren würdigten den Text mit Beschreibungen wie: „von beispielloser Leichtigkeit, Dichte und Relevanz, der nie offenlässt, auf welchen Quellen er basiert.“

„Aber in Wahrheit ist, was zu diesem Zeitpunkt noch niemand wissen kann, leider alles offen. Alle Quellen sind trüb. Vieles ist wohl erdacht, erfunden, gelogen“, urteilt der Spiegel später.

Wenn die „schöne Geschichte“ nicht den Tatsachen entspricht, dann ist es eine Fantasiegeschichte. Bei Geschichten, die so eindeutig deklariert sind, hat der Leser eine Wahl, ob er entsprechend dem Inhalt auf eine Reise durch eine künstlich geschaffene Welt eines Autors gehen möchte. Doch in Geschichten zu tatsächlichen Umständen hat Fiktion nichts zu suchen.

Vernachlässigung der Vernunft und des kritischen Hinterfragens

Die sprachliche Schönheit der Texte von Relotius scheint auch nicht das tatsächliche Problem gewesen zu sein, auch wenn es den klaren Blick der Kollegen anscheinend getrübt zu haben schien. Sondern die Vernachlässigung der Vernunft und des kritischen Hinterfragens auch des eigenen Weltbildes und der Zusammenhänge und Hintergründe wirkten viel schwerwiegender. Passte das was Relotius schrieb mit dem, was man lesen wollte, zu sehr überein?

So heißt es in der Stellungnahme von Fichtner: „Es gehört zur Grundausstattung des Menschen, im Umgang mit Wahrheit und Wahrscheinlichkeit erstaunlich großzügig zu sein, solange kein Grund zum Zweifeln besteht. Dann ist die Bereitschaft, noch die unglaublichsten Geschichten für wahr zu halten, solange sie nur plausibel wirken, ziemlich grenzenlos.“

Relotius verstand es seine Geschichten perfekt zu inszenieren. Foto: iStock

Und weiter schreibt Fichtner: „Nun rückblickend scheint vieles klarer: Der Text des Songs [der von Relotius frei erfunden, in einer Szene innerhalb einer Geschichte angeblich abgespielt wurde] passt so perfekt in die Geschichte, dass man in der Rückschau sagen muss: Es ist zu schön, um wahr zu sein“.

Relotius schrieb entsprechend des Weltbildes des „Spiegels“ und seiner Mitarbeiter

Daraus wird deutlich, dass Relotius es verstand seine Geschichten perfekt zu inszenieren, sodass sie sprachlich schön und alle wesentlichen Elemente für eine gute Geschichte enthielten. Darüber hinaus zeigen die Reportagen aber auch, dass er verstand entsprechend dem Weltbild des „Spiegels“ und seiner Mitarbeiter zu schreiben. Das war und ist auch jetzt noch der „blinde Fleck“, über den in keiner hauseigenen Stellungnahme gesprochen wird.

Anhand frei erfundener Details wird dies allerdings deutlich:

So heißt es z. B. in der Reportage „Jaegers Grenze“ über eine amerikanische Bürgerwehr in Arizona, dass die Bürgerwehrler YouTube-Videos von Donald Trump auf ihren Handys anschauen. Foley einer der Protagonisten in der Reportage erklärt dazu: „Wo wir unterwegs sind, gibt es gar kein Netz“.

US-Präsident Donald Trump bei einer Rede. Foto: Olivier Douliery-Pool/Getty Images

In der Reportage „In einer kleinen Stadt“ geht Relotius noch weiter. Hier berichtet er von der Kleinstadt Fergus Falls im US-Bundesstaat Minnesota. Direkt am Ortseingang gleich neben dem Willkommensschild sei laut Relotius ein zweites Schild aufgestellt, „halb so hoch, aber kaum zu übersehen … Auf diesem Schild, aus dickem Holz in den gefrorenen Boden getrieben, steht in großen, aufgemalten Buchstaben: ‚Mexicans Keep Out‘ – Mexikaner, bleibt weg.“ Dieses Schild, das den ganzen Grundton der Geschichte angibt, hat nie existiert, „es stand nur in der Fantasie des Autors herum“, berichtet Fichtner.

Spiegel: „Bilder von Deutschen, die den Hitlergruß zeigen, wie bei den Vorfällen in Chemnitz“

In dem Artikel „Kehrt nicht auch das Böse, wenn man es lässt, eines Tages zurück?“, geht es um die in den USA lebende letzte Überlebende der „Weißen Rose“, Traute Lafrenz. Die „Weiße Rose“ war eine deutsche Widerstandsgruppe, die gegen die Diktatur des Nationalsozialismus kämpfte. Relotius lässt in seiner Reportage Lafrenz sagen: „In einer amerikanischen Zeitung habe ich aktuelle Fotos aus Deutschland gesehen – mir ist ganz kalt geworden.“

In einer amerikanischen Zeitung habe ich aktuelle Fotos aus Deutschland gesehen – mir ist ganz kalt geworden“, so laut Relotius die ehemalige Widerstandskämpferin Lafrenz, was sich allerdings als Falschaussage herausstellte.

Dabei soll es sich um Bilder von Deutschen gehandelt haben, die den Hitlergruß zeigen, wie bei den Vorfällen in Chemnitz Ende August 2018, schreibt der Spiegel. Auf telefonische Nachfrage durch den Spiegel im Dezember 2018 sagte Lafrenz, sie habe solche Fotos nicht gesehen und deshalb auch nicht mit Relotius darüber gesprochen.

Chemnitzer versammeln sich nach dem Tod von Daniel H. durch Messerstiche von Asylbewerbern vor dem Veranstaltungsraum, wo der sächsische Ministerpräsidenten Michael Kretschmer sich mit Bürgern der Stadt trifft. Foto: Sean Gallup/Getty Images

Aber auch in die Reportagen zum Syrien-Konflikt webte Relotius politische Sichtweisen hinein.

So schreibt der designierte Spiegel-Chefredakteur Fichtner nun selbst, dass die Passage in der Reportage „Schicksale: Königskinder“ von Relotius vermutlich ausgedacht ist, in der die Kinder täglich an Häuserwänden in Syrien vorbeigehen, an denen „große, arabische Plakate“ hängen: „Der ‚Islamische Staat‘ lässt sie kleben, lockt mit Taschengeld und Essen, mit einer ‚großen Familie‘, die sich um Jugendliche kümmert.“  Der Spiegel schreibt, dass der IS selbst im eigenen Herrschaftsgebiet keine solchen Plakate kleben ließ, es finden sich auch keine Berichte in der Presse darüber.

Spiegel: „Sagen, was ist.“ – Das ist der Auftrag immer gewesen

Statt jedoch den Punkt „ideologische Beeinflussung“ selbstkritisch zu hinterleuchten heißt es in einer der Stellungnahmen des Spiegels zum Fall Relotius:

Relotius habe in einer Reportage „Königskinder“ (die Reportage wurde mehrfach ausgezeichnet) berichtet, dass er mit dem Mädchen hinab in den Keller steigt, der nach Schweiß stinkt, über eine Treppe mit 15 Stufen. „15 Stufen, weil Relotius gelernt hat, dass exakte Zahlen die Glaubwürdigkeit des Geschriebenen erhöhen“, so der Spiegel.

An anderer Stelle heißt es in der Stellungnahme:

„Wer das Atrium der SPIEGEL-Zentrale am Ericusgraben in der Hamburger Hafencity betritt, hat an der Wand gegenüber das Motto des SPIEGEL-Gründers Rudolf Augstein vor Augen, in dem sich das publizistische Ideal des Hauses in seiner knappsten Form verdichtet: ‚Sagen, was ist.‘ Das ist der Auftrag immer gewesen, und niemand sollte die silbernen Lettern für bloßen Wandschmuck oder journalistische Folklore halten. Sagen, was ist, das heißt in den Worten des Statuts von 1949:

Alle im SPIEGEL verarbeiteten und verzeichneten Nachrichten, Informationen, Tatsachen müssen unbedingt zutreffen […] Berichtigungen kann sich der SPIEGEL nicht erlauben.“

Das gilt. Es ist Verpflichtung. Wort für Wort“, so der Spiegel.

Eine junge Frau hält eine Spiegel-Ausgabe hoch, in der Trumps Einreiseverbot für Menschen aus mehreren muslimischen Ländern thematisiert wird. Foto: ODD ANDERSEN/AFP/Getty Images

Andererseits äußerte Jakob Augstein in einem Bild-Interview zum Fall Relotius:

„Der Fall Relotius ist keine Krise des Spiegels, sondern die Krise einer bestimmten Art von Journalismus. Der Spiegel ist ein politisches Nachrichtenmagazin und erfüllt diesen Anspruch als Magazin Woche für Woche und im Netz Tag für Tag. Beim Heft gibt es Kollegen, denen es guttäte, sich daran zu erinnern.”

Klusmann: “Einer Marke mit der Autorität des Spiegel darf ein solches Versagen nicht passieren“

Steffen Klusmann seit 1. Januar einer der drei Chefredakteure des Spiegel äußerte Ende Dezember: “Einer Marke mit der Autorität des Spiegel darf ein solches Versagen nicht passieren, das ist hochnotpeinlich und dafür können wir uns nur schämen – egal wie genialisch Relotius das alles eingefädelt haben mag.” Und er führt weiter aus: “Wir als Haus haben (…) in einem erheblichen Ausmaß versagt. Das wird Konsequenzen haben.” Was er genau unter „eine Marke mit der Autorität des Spiegel“ meint, führt er nicht näher aus. An Konsequenzen wurden bis jetzt nur personelle Veränderungen bekannt.

In den insgesamt zehn oder elf Jahren als Journalist publizierte Relotius laut dem Spiegel auch im „Cicero“, in der „Neuen Zürcher Zeitung am Sonntag“, der „Financial Times Deutschland“, der „taz“, der „Welt“, im „SZ-Magazin“, in der „Weltwoche“, auf „ZEIT online“, in „ZEIT Wissen“ und in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“.

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.


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