Wie berechtigt sind die Zweifel an der Schuldenbremse?

Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts fehlen der Bundesregierung nun nicht nur viele Milliarden Euro – auch die Schuldenbremse wird gerade heftig diskutiert. Ist sie tatsächlich noch zeitgemäß? Was spricht dafür und was dagegen?
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„Mit Geld und Verstand. Schulden bremsen, Chancen schaffen. Unser Bundeshaushalt“: Das stand ursprünglich auf einer Spruchtafel am Bundesfinanzministerium in Berlin.Foto: Kay Nietfeld/dpa
Von 26. November 2023

Für die Ampel war der 15. November ein Schockmoment: Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe untersagte der Regierungskoalition, die Mittel, die für die Corona-Bekämpfung vorgesehen waren, in den Klima- und Transformationsfonds (KTF) zu verschieben. Im Bundeshaushalt klaffte plötzlich ein Loch von 60 Milliarden Euro. Doch damit nicht genug: Plötzlich stehen alle Sondervermögen der Bundesregierung auf dem Prüfstand, aber auch die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse. Diese begrenzt die Schuldenaufnahme auf 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Nur in Notsituationen kann die Schuldenbremse ausgesetzt werden.

Lange Zeit wurde das Mittel der Schuldenbremse als wirksame Waffe gegen immer schwindelerregendere Staatsverschuldung gefeiert. Sie entstand im Jahr 2009, also unter dem Eindruck der Finanzkrise. Damals hatten viele Staaten taumelnde Banken mit Milliardensummen vor dem Zusammenbruch gerettet. Damals wurde unter anderem die Bank Hypo Real Estate verstaatlicht. Der Staat beteiligte sich damals auch an der Commerzbank. Aus diesen Erfahrungen heraus wollte man zukünftig stärker Obacht auf die Staatsfinanzen geben. Der Staat erlegte sich damals selbst auf, den Gürtel enger zu schnallen. Die „schwarze Null“ im Bundes- und Landeshaushalt war plötzlich die Währung, an der sich erfolgreiche Finanzpolitik messen lassen musste. 2011 fand die Schuldenbremse zum ersten Mal Anwendung. Seit 2016 ist ein ausgeglichener Haushalt zwingend vorgeschrieben. Für Finanzminister in den vergangenen Jahren war es ein festes Ritual, bei der Vorstellung ihrer Haushalte darauf hinzuweisen, dass sie die „schwarze Null“ erreicht haben. Ohne neue Schulden in Zukunft – so lautet der feste Wille deutscher Finanzpolitik.

100 Milliarden Kreditaufnahmen in einem Jahr

War die Staatsverschuldung in den Jahren zwischen 2008 und 2010 sprunghaft von 60 auf 80 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gestiegen, konnte diese in den kommenden zehn Jahren zurückgefahren werden. Im Jahr 2019 lag die Staatsverschuldung wieder knapp bei 60 Prozent des BIP. Dann kam die Corona-Krise und die Schuldenbremse wurde in den Jahren 2021 und 2022 ausgesetzt.

Plötzlich war der Staat wieder gezwungen, sich hoch zu verschulden. Damit wollte er dem Einbruch der Wirtschaftsleistung entgegentreten. Für das vergangene Jahr verschuldete sich der Bund laut Angaben des ifo-Instituts in München mit Nettokreditaufnahmen von knapp 100 Milliarden Euro. Rechnet man diesen Betrag auf die Einwohnerzahl von 83 Millionen Menschen in Deutschland, dann sind das rund 1.200 Euro pro Kopf.

Seit diesem Jahr gilt nun wieder die Schuldenbremse. Innerhalb der Ampelkoalition ist es vor allem die FDP, die ihre Koalitionspartner immer wieder daran erinnert, dass an der Schuldenbremse kein Weg vorbeiführen darf. Als die Bundesminister Anfang des Jahres die Etats ihrer Häuser zusammenstellten, war es Finanzminister Christian Lindner (FDP), der immer wieder an die Notwendigkeit des Sparens erinnerte.

Forderung nach Aussetzen der Schuldenbremse immer lauter

Nachdem die Richter in Karlsruhe mit ihrem Urteil der Ampel eine „gigantische Klatsche“ erteilte, wie es im Nachgang CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt ausdrückte, wurde deutlich, wie uneins sich die Regierungskoalition bezüglich Schuldenbremse ist. „Das Karlsruher Urteil härtet die Schuldenbremse“, stellte FDP-Fraktionschef Christian Dürr gleich nach der Urteilsverkündung fest. SPD und Grüne hadern schon länger mit der von ihnen ungeliebten Schuldenbremse.

„Durch die anhaltenden Krisen […] ergeben sich Herausforderungen, die wir nicht aus einem Normalhaushalt stemmen können, ohne dabei andere Aufgaben zu vernachlässigen“, sagte SPD-Parteivorsitzende Saskia Esken Ende Oktober gegenüber der „Rheinischen Post“. Sie sei davon überzeugt, dass es eine „erneute Ausnahme von der Schuldenbremsen-Regelung“ benötige.

Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hat gerade erst gesagt, dass er die Schuldenbremse in der aktuellen Form nicht mehr für zeitgemäß halte. Sie sei „in einer anderen Zeit“ gebaut worden: „Als wir immer billiges Gas aus Russland hatten, als China immer unsere Werkbank war oder unser Abnahmemarkt, als die Amerikaner immer verlässliche, treue Freunde waren und uns die militärische Last abgenommen haben, weil es keinen Krieg in Europa gab“, sagte der Minister in den ARD-“Tagesthemen“.

Die Schuldenbremse sei „sehr statisch“ und unterscheide nicht zwischen Geldern, die im Laufe des Jahres ausgegeben werden, und Investitionen in die Zukunft, die sich erst nach Jahren rechnen. Das scheine ihm wenig sinnvoll. „Ich persönlich mache keinen Hehl daraus, dass ich die Art, wie die deutsche Schuldenbremse konstruiert ist, für zu wenig intelligent halte“, sagte der Grünen-Politiker.

Anhand der Äußerungen aus dem Regierungslager liegt es auf der Hand, dass die Schuldenbremse das Zeug hat, zum nächsten Zankapfel in der Ampel zu werden. Verhindert sie den Finanzcrash oder bremst sie Deutschland in schwierigen Zeiten aus? Das ist die Frage, die sich nicht nur in der Koalition gestellt wird.

Befürworter einer Schuldenbremse werden immer wieder argumentieren, dass die Schuldenaufnahmen nach der Wirtschaftskrise 2009 ausgeufert wäre, hätte man dem nicht grundgesetzlich verankert etwas entgegengesetzt. Immerhin hat man es so geschafft, bis 2019 die Staatsverschuldung wieder von 80 auf 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zurückzufahren. Das ist nicht abzustreiten.

Trotz wirtschaftlich guter Jahre keine Investition in Infrastruktur

Allerdings verwiesen die beiden Wirtschaftsprofessoren Jens Südekum vom Düsseldorf Institute for Competition Economics (DICE) der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), schon 2020 in einem Beitrag für den „Wirtschaftsdienst – Zeitschrift für Wirtschaftspolitik“ darauf, dass die Konsolidierung des Haushaltes nicht hauptsächlich auf „allzu vorsichtige oder sparsame öffentliche Ausgaben“ zurückzuführen sei. Sie weisen darauf hin, dass es in diesem Zeitraum viele neue Sozialausgaben gegeben habe. So nennen sie beispielsweise die Mütterrente oder das Baukindergeld. Auch sei das Jahrzehnt der Konsolidierung von 2009 bis 2019 nicht mit einer Rückzahlung der öffentlichen Schulden verbunden gewesen. In absoluten Zahlen gerechnet, stieg die Gesamtverschuldung zwischen 2007 und 2009 um rund 500 Milliarden Euro an. Bis 2019 nahm sie dann allerdings nur um rund 100 Milliarden Euro ab.

Dass die Schuldenquote trotzdem absank, hatte laut den beiden Professoren damit zu tun, dass die deutsche Wirtschaft in den zehn Jahren eine „beispiellose Boomphase“ erlebte. Der Arbeitsmarkt florierte und die Beschäftigungsquote erreichte mit 80 Prozent ein Allzeithoch. Das alles führte zu steigenden Steuereinnahmen. Dazu kamen dann noch die rückläufigen Zinszahlungen, die sich aus der Niedrigzinspolitik der EZB ergaben. Der Haushalt konsolidierte sich also vor allem durch das Wachstum des BIP und steigenden Steuereinnahmen.

Trotz der „goldenen Zeit“ in Deutschland investierten die damaligen Bundesregierungen aber nicht in das Land. Das Niveau öffentlicher Investitionen blieb erschreckend niedrig. Die Auswirkungen spüren wir heute alle. Die deutsche Infrastruktur in digitalen Netzen, Schiene und Straße weist immense und offensichtliche Defizite auf, ebenso wie die oft maroden öffentlichen Gebäude und Schulen. Das ist nicht nur für die Menschen im Land ein Ärgernis, sondern auch für viele Unternehmer inzwischen ein großes Hindernis, sich zu entwickeln.

Gegner der Schuldenbremse argumentieren, dass genau diese Defizite nun behoben werden müssen. Das geht nun einmal nur mit Geld. Nach 16 Jahren des Stillstands unter Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) muss die jetzige Bundesregierung nun die Scherben ihrer Politik zusammenkehren.

Schuldenbremse „zukunftsfeindlich“

Der Ökonom Peter Bofinger von der Universität Würzburg nannte die Schuldenbremse gerade erst „zukunftsfeindlich“. Man könne sehen, wie die Bremse „in unsere Zukunftsgestaltung einschneidet“. Als Beispiele nannte der Wirtschaftsprofessor notwendige Investitionen in die Bahnmodernisierung, Gebäudesanierung und Halbleiterfabriken.

Auch der vorhin schon erwähnte Professor Jens Südekum sagte vor wenigen Tagen gegenüber dem „Deutschlandfunk“: Durch das Urteil aus Karlsruhe sei die „Schuldenbremse maximal scharf gestellt“. Es werde jetzt die Frage sein, „ob sie der Realität überhaupt standhält“.

Der Ökonom stellte die Frage, ob diese Schuldenbremse „einfach nicht mehr in diese Zeit passt, wo wir diese riesigen Herausforderungen vor uns haben, gerade im investiven Bereich“. Deutschland sei zudem „nie exzessiv verschuldet“ gewesen, sagte Südekum. Die Schuldenquote sei im internationalen Vergleich „sehr niedrig“. Die Zahlen in den USA, Großbritannien und anderen Staaten sei wesentlich höher.

Nachfolgender Generation keinen „fiskalischen Scherbenhaufen“ hinterlassen

Zu den Befürwortern der Beibehaltung der Schuldenbremse gehört der Volkswirt Friedrich Heinemann vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim. Gegenüber dem Wirtschaftsmagazin „Capital“ sagte er in einem Interview: „Die Schuldenbremse abzuschaffen, wäre eine fatale Lösung. Dann würden wir den nachfolgenden Generationen auch fiskalisch noch einen Scherbenhaufen hinterlassen.“

Heinemann sprach sich dafür aus, die Schuldenbremse zu reformieren. „Vieles drängt in Richtung der Frage: Brauchen wir doch ein größeres Verschuldungsfenster und eine Ausweitung der Schuldenbremse?“, so Heinemann. „Dafür braucht man aber eine Verfassungsänderung, so wie zuletzt geschehen beim Sondervermögen für die Bundeswehr.“

Auch der Wirtschaftsforscher Jens Südekum sieht angesichts der gewaltigen Investitionen einen Handlungsbedarf. „Ich bin für eine Reform der Schuldenbremse“, so Südekum im „Deutschlandfunk“. Der Bundeshaushalt dürfte nicht viel restriktiver gestaltet werden „als in so ziemlich jedem anderen Land“.

Zukunftsausgaben, also Investitionen, sollten kreditfinanziert werden dürfen. „Das ist die sogenannte goldene Regel der Haushaltspolitik und ist ökonomisch höchst vernünftig.“ Die Schuldenbremse sollte aus seiner Sicht für konsumtive Ausgaben des Staates gelten – also auch Transferzahlungen und Renten.

Opposition stemmt sich gegen Änderungen an der Schuldenbremse

Ob die Schuldenbremse reformiert werden kann, hängt wie so oft von der Politik ab. Im Bundestag bräuchte es eine Zweidrittelmehrheit, wenn man die Schuldenbremse abschaffen oder auch nur reformieren wollte. Diese Mehrheit kann die Ampelkoalition im Moment nicht aus den eigenen Reihen stellen. Man bräuchte Unterstützer bei den Oppositionsfraktionen. Mit der Union ist das aber nicht zu machen. Sie lehnt Änderungen an dieser Stelle im Grundgesetz ab.

„Die Bundesregierung wird von uns jedenfalls keine Zustimmung bekommen, wenn sie ernsthaft vorschlagen sollte, die Schuldenbremse des Grundgesetzes zu lockern“, sagte Unions-Fraktionschef Friedrich Merz (CDU) gerade erst in einem Interview mit der Nachrichtenplattform „t-online“. Aus seiner Sicht gibt es dafür keine Rechtfertigung. „Die Ampel muss mit dem Geld auskommen, das im Bundeshaushalt vereinnahmt wird“, so Merz.



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