„10 Tage Hölle“: Hoffen auf humanitären Korridor aus Charkiw – Was dann?

Russland und die Ukraine einigen sich auf eine Feuerpause für einen humanitären Korridor für Hilfsgüter. Zivilisten dürfen flüchten. Manche sind skeptisch, aber es gibt auch Hoffnung.
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Zerstörung durch den Krieg in der Nähe von Kiew.Foto: Pierre Crom/Getty Images
Epoch Times6. März 2022

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Der Leiter der ukrainischen Delegation für Gespräche mit Russland hat Hoffnungen auf einen baldigen humanitären Korridor aus der ostukrainischen Stadt Charkiw ausgedrückt.

„So Gott will“ werde es am Sonntag einen Korridor geben, schrieb David Arachamija auf Facebook. Der Satz war eine Antwort auf den Kommentar einer Frau auf seiner Facebook-Seite, sie doch zu erhören und sich mit Russland auf einen Waffenstillstand zu einigen. Sie sei aus Charkiw und habe „10 Tage Hölle“ erlebt.

Vertreter der Ukraine und Russlands hatten sich zuletzt im Westen von Belarus getroffen und sich bei ihrer zweiten Runde auf humanitäre Korridore verständigt. Sie sollten dabei helfen, dass Menschen umkämpfte Städte und Dörfer verlassen können. Am Samstag aber scheiterten Evakuierungen aus der ukrainischen Hafenstadt Mariupol. Beide Seiten warfen sich vor, gegen die verabredete Feuerpause verstoßen zu haben.

Die Evakuierungen wurden deshalb zunächst verschoben, am Nachmittag setzte das russische Militär nach eigenen Angaben seine Angriffe auf Mariupol und die Stadt Wolnowacha fort. Die Entwicklung dürfte jene bestätigen, die humanitäre Korridore ohnehin skeptisch sehen. Denn das Nachspiel könnte verheerend sein, wie ein Blick in die Vergangenheit zeigt.

Was erwarten die Konfliktparteien?

Die ukrainischen Behörden rechnen damit, dass mehr als 200.000 Menschen Mariupol in der Region Donezk während der Waffenruhe verlassen. Das wäre knapp die Hälfte der Bevölkerung. Für die Stadt Wolnowacha werde von 15.000 Menschen ausgegangen, sagte Vize-Regierungschefin Iryna Wereschtschuk. Die Evakuierung soll etappenweise über mehrere Tage erfolgen, hieß es. Dazu werden Busse bereitgestellt. Die beiden Städte gelten als Brennpunkte in der Region. Die Infrastruktur ist den Behörden zufolge weitgehend zerstört.

Wo sind die Korridore geplant – und für wie lang?

Als wichtigster Fluchtkorridor ist die Strecke von Mariupol bis Saporischschja vorgesehen, das sind etwa 225 Kilometer. Die Menschen sind aufgerufen, zu ihrer eigenen Sicherheit auf keinen Fall von der zwischen der ukrainischen und der russischen Armee vereinbarten Route abzuweichen. Die Evakuierung soll an mehreren Tagen erfolgen. Neben städtischen Bussen könnten Einwohner mit eigenen Autos die Stadt verlassen. „Nehmen Sie so viele Menschen mit wie möglich“, appellierte die Stadt.

Wie sind die Korridore rechtlich geregelt?

Das humanitäre Völkerrecht verpflichtet unabhängig solcher Korridore alle Konfliktparteien, die Zivilbevölkerung, verwundete Soldaten oder Gefangene zu schützen. Krankenhäuser sind grundsätzlich nach den Genfer Konventionen vor Angriffen zu bewahren. Dazu tauschen die Gegner die Standorte der medizinische Einrichtungen aus. Darüber hinaus können nach gegenseitiger Absprache Sanitäts- und Sicherheitszonen eingerichtet werden. Das ist im „Genfer Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten“ geregelt.

Daneben können sich Kriegsparteien auch darauf einigen, Verwundeten- oder Hilfstransporte entlang bestimmter Korridore durch anerkannte humanitäre Akteure wie Hilfsorganisationen nicht zu behelligen. Wasser, Lebensmittel, Medikamente, medizinische Versorgung und alltägliche Güter können in die Konfliktregion gebracht werden, Zivilisten haben die Möglichkeit, die umkämpften Gebiete zu verlassen. Anders als bei einem vereinbarten Waffenstillstand werden um die Korridore herum die Kämpfe weitergeführt.

Humanitäre Korridore haben aber nach Angaben des Beirats der Bundesregierung zur zivilen Krisenprävention und Friedensförderung nicht direkt den Schutz der Bevölkerung zum Ziel. Sie könnten aber dazu beitragen, Gewalt zu reduzieren. Eine unabhängige Instanz, die die Achtung dieser Korridore durchsetzen könnte, gibt es nicht.

Wie beurteilen Experten die Feuerpause?

Der CDU-Verteidigungspolitiker Henning Otte sieht in Waffenruhen und humanitäre Lieferungen durchaus eine Chance: Diese könnten „ein offenes Fenster werden für einen Waffenstillstand und für Verhandlungen“, sagt er am Samstag im Deutschlandfunk.

Nach Ansicht des früheren Nato-Generals Egon Ramms berge eine Feuerpause allerdings auch die Gefahr, dass eine Seite ihre Truppen neu sortiere und militärische Operationen vorbereite. Dann gebe es die Möglichkeit, ohne eine relative Bedrohung der anderen Seite „Kräfte umzugruppieren oder Kräfte nachzuführen“ sowie Nachschub bei der Versorgung zu organisieren, so Ramms am Samstag im ARD-„Morgenmagazin“.

Das Internationale Rote Kreuz begrüßt Initiativen wie solche Korridore, die zur Sicherheit von Zivilisten beitragen könnten. „Diese müssten aber sehr gut geplant, sehr gut koordiniert und sehr gut kommuniziert sein“, sagt ein Sprecher der Deutschen Presse-Agentur. Das sei unter Umständen ein schwieriges Unterfangen. Die Hilfsorganisation macht zudem darauf aufmerksam, dass trotz solcher Maßnahmen „Zivilisten unter allen Umständen nicht Ziel von Kampfhandlungen sein dürften“.

Haben sich solche Maßnahmen früher bewährt?

Es ist nicht das erste Mal, dass Russland eine lokale Bevölkerung auffordert, ein umkämpftes Gebiet zu verlassen. Das hatte teils verheerende Folgen. In der nordsyrischen Rebellen-Hochburg Aleppo kommt es zum Beispiel 2016 immer wieder zu mehrtägigen Feuerpausen. Später folgen schwere Angriffe der syrischen Truppen und massive Luftschläge der russischen Verbündeten. Damaskus übernimmt letztlich die Kontrolle über eine völlig verwüstete Stadt.

Und so war es auch in Grosny, der Hauptstadt der seinerzeit abtrünnigen russischen Teilrepublik Tschetschenien. Im Dezember 1999 ruft Moskau Zivilisten auf, die Stadt im Kaukasus innerhalb weniger Tage über sichere Korridore zu verlassen. Nach weiteren Wochen erbitterter Kämpfe wird die Infrastruktur komplett zerstört. (dpa/red)



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