465 Mysterien erwarten die Besucher von Elefsína in Griechenland

Ein griechisches Venedig ist sie nicht, die dritte Kulturhauptstadt Europas im Jahr 2023. Elefsína ist eine griechische Hafenstadt – anders gesagt, eine Stadt voller Industrieruinen. Aber auch voller antiker Geschichte.
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Elefsína war vor allem für die „Großen Mysterien“ bekannt – wie die Eleusinischen Mysterien auch genannt wurden. Es war der sagenumwobenste geheime religiöse Ritus des antiken Griechenlands.Foto: iStock
Von 12. Juni 2023

Es mag überraschen, dass die griechische Hafenstadt Elefsína mit ihren bröckelnden Gebäuden und der dominanten Präsenz alter Industriekomplexe im Wettbewerb um den Titel der Kulturhauptstadt Europas stand. Und sogar mit Erfolg. Denn in diesem Jahr ist Elefsína neben Veszprém in Ungarn und Timisoara in Rumänien Kulturhauptstadt Europas.

Die nur 40 Autominuten von Athen entfernte Hafenstadt mit ihren knapp 29.900 Einwohnern ist eine der ältesten Städte Griechenlands. Sie liegt direkt gegenüber der Insel Salamina, an der Straße zwischen Athen und der Halbinsel Peloponnes. Ihre Geschichte reicht mehr als 2.000 Jahre vor Christus zurück. Sie ist eine der fünf heiligen Städte des Landes, neben Athen, Olympia, Delphi und der Insel Delos bei Mykonos und Geburtsort des großen dramatischen Dichters Aischylos.

Jedoch mit der Ankunft der Eisenbahn um 1900 wurde die Hochburg der antiken griechischen Kultur zu einem Industriezentrum und bald zu einem Knotenpunkt für Arbeiter und Migranten. Dieser Ort, wie die Griechen sagen, schenkt seine Schönheit nicht jedem. Um ihn zu sehen, reicht es nicht aus, ihn mit den Augen zu betrachten, man muss ihn auch mit der Seele spüren, erklärt Michail Marmarinos, Kulturprojektmanager gegenüber „Deutsche Welle“.

Augenscheinlich gleicht Elefsína tatsächlich am ehesten einem Industriefriedhof, der das Küstenpanorama stört. Und doch findet man hier ebenso uralte Ruinen und eine kleine Gemeinde mit kulturellem Engagement, die die Arbeiterbevölkerung anspricht. Auch seit seiner Gründung 1975 eines der wichtigsten Theaterfestivals Griechenlands, das „Aischylia“, spielt sich hier ab.

Ein Blick auf Elefsína – von den Hügeln der antiken Ausgrabungsstätte. Foto: iStock

Die Stadt des Mysteriums von Leben und Tod

Um sich dieser besonderen Stadt im Herzen zu nähern, sollte man zunächst ihre Vergangenheit und ihre Botschaft verstehen. Diese Stadt war das Zentrum eines der berühmtesten Kulte des antiken Griechenlands, der Eleusinischen Mysterien. Während der Mysterien konnten die Eingeweihten die Geheimnisse des Lebens und des Todes erfahren.

Grundlage dafür ist die uralte Geschichte über Demeter, die Göttin des Lebens und der Fruchtbarkeit, und ihre Tochter Persephone. Die Legende besagt, dass Hades, dem Herrn der Unterwelt, das schöne Mädchen so sehr gefiel, dass er sie entführte und in das Reich der Toten mitnahm. Darüber geriet die Göttin Demeter in Rage. Sie verließ den Wohnsitz der Götter, den Olymp, und eilte nach Elefsína. Verzweifelt suchte sie nach ihrer verschwundenen Tochter und zog sich in einen Tempel zurück, den der König ihr zu Ehren erbaut hatte. Der Kummer der Göttin war so groß, dass das Land aufhörte zu blühen und die Menschen langsam verhungerten.

Zeus konnte die Situation nicht länger dulden und musste eingreifen. Schließlich wurde ein Kompromiss gefunden: Die schöne Persephone sollte die Hälfte des Jahres mit ihrem Mann in der Unterwelt verbringen und die andere Hälfte mit ihrer Mutter auf der Erde. Die Geschichte wurde in der Mythologie zu einem Symbol für den ewigen Kreislauf von Leben und Tod.

Frederic Leighton, Die Rückkehr von Persephone, 1891. Foto: Wikimedia Commons

Die wahre Mystik war das Geheimnis der Eingeweihten

Der Kern der eleusinischen Mysterien war der Mythos von Persephones Entführung. In der mystischen Tradition geht es darum, diese Geschichte für sich selbst zu erleben, um sich von der Angst vor dem Tod zu befreien. Indem die Eingeweihten, die sogenannten Mysten, durch eine Pilgerreise und eine Reihe besonderer Rituale gereinigt wurden, erlangten sie Wissen über das Geheimnis von Leben und Tod.

Jedes Jahr, wenn es auf den Monat September zuging, begaben sich Tausende Menschen auf die neuntägige Pilgerreise von Athen nach Elefsína. Die Reise war körperlich und geistig anstrengend. Die Pilger erreichten die Stadt und das weite Meer, nachdem sie auf dem Weg dorthin gefastet und mystische Orte  besucht hatten. Obwohl viele Menschen daran teilnahmen, gelang nur einigen wenigen die Einweihung im Tempel von Elefsína. Eine Bedingung war die absolute Geheimhaltung der Rituale, damit die Details nicht an die Öffentlichkeit gelangen konnten. Unter den Teilnehmern waren wahrscheinlich auch einflussreiche Persönlichkeiten wie Sokrates, Platon, Aristoteles, Sophokles und Cicero.

In Elefsína wurde zwischen den Großen und den Kleinen Mysterien unterschieden. Die große Pilgerfahrt fand während Persephones Abstieg in die Unterwelt statt, im August/September, während das kleine Mysterium in der Zeit der Rückkehr Persephones in die irdische Welt im Februar/März lag. Man nimmt an, dass die Mysterien sogar seit mykenischer Zeit, etwa ab 1500 v. Chr., gefeiert wurden, bis 392 n. Chr. der christliche Kaiser Theodosius sie verbot.

Abguss eines athenischen Marmor-Motivreliefs von Demeter, Persephone und einem Hohepriester ihres Kultes in der Nähe des Tempels des Zeus in Athen, Griechenland. Foto: iStock

Die Dualität von Elefsina in der Neuzeit

Die antike Stadt Elefsína liegt praktisch unter der modernen Stadt. Jedes Mal, wenn Bauarbeiter auf einer neuen Baustelle ans Werk gehen, werden neue Funde ausgegraben, schreibt Yiouli Eptakili, der die Gegend auf „greece-is.com“ vorstellt.

Es geht jedoch nicht nur um Vergangenheit und Gegenwart oder das Mysterium von Leben und Tod. Auch in der Entwicklung der Stadt spiegelt sich die Dualität wider. Mit der Ankunft der Eisenbahn kam Industrie in das ruhige Städtchen. Und sie kam mit voller Macht. Nach Angaben von Eptakili fertigte Elefsina in den 1960er-Jahren allein 40 Prozent der gesamten Industrieproduktion des Landes. Züge verkehrten häufig und praktisch alles wurde in der kleinen Hafenstadt produziert. Es gab Seifenfabriken, Alkoholbrennereien, Farbenfabriken, Stahl- und Zementwerke und vieles mehr.

Man konnte die Wäsche nicht draußen lüften. Ruß und Staub fielen herunter. Das Leben war unerträglich“, erinnert sich ein älterer Mann.

Auch die Bevölkerung wurde sehr bunt. Die Hafenstadt, die für ihre Gastfreundschaft bekannt ist, nahm viele Flüchtlinge auf und tut dies bis heute. Im Laufe mehrerer Einwanderungswellen wuchs die Bevölkerung Elefsínas um ein Vielfaches. Nach dem griechisch-türkischen Krieg 1922 kamen viele Flüchtlinge aus Kleinasien, während es nach dem zweiten Weltkrieg Griechen aus verschiedenen Teilen des Landes waren, die in den Fabriken Arbeit fanden.

Auch wenn die meisten Fabriken längst geschlossen sind, ist die Einwohnerschaft von Arbeitern geprägt. Gleichzeitig blieben hier viele entscheidende Elemente der griechischen Kultur erhalten. Eines der abgerissenen Fabrikgelände beherbergt etwa ein wunderbares griechisches Theater, in dem jedes Jahr bedeutende Theaterfestivals stattfinden.

In der kleinen Stadt gibt es in der Tat überall Künstler. Vor ein paar Jahren initiierte ein Maler, den Bahnhof mit Topfpflanzen zu begrünen. Er bat hierfür Anwohner, Pflanzen zu spenden – im Gegenzug bot er an, durch bemalte Flächen Farbe in die Häuser und Vorgärten der Spender zu bringen.

In der Stadt gibt es eine Reihe von stillgelegten und teilweise abgerissenen Fabrikgebäuden. Foto: iStock

Vom Industriefriedhof zur Kulturhauptstadt

Heute gleicht die Hafenstadt einem Gräberfeld aus verlassenen Fabriken, stillgelegten Schiffen – und überall architektonischen Resten antiker Kultur.

Daher scheint die Frage nötig: Wie kam es in so einem Umfeld zu der Idee, sich um den Titel der Kulturhauptstadt zu bewerben?

Konstantinos Kalesis sorgte für die Bewerbung. Gegenüber einem griechischen Portal sagte er einmal, dass ihr Projekt erfolgreich sein könnte, weil sie das Thema richtig verstanden hätten. Elefsína könnte ein neuer Weg für die Entwicklung der Menschheit sein. Laut Kalesis „hat die Menschheit zwei große Übergänge erlebt: die landwirtschaftliche Revolution und die Industrielle Revolution“. Die Projektverantwortlichen meinen, dass die Menschheit heute vor der Herausforderung stehe, „ein neues Modell für eine nachhaltige Entwicklung zu finden“.

Daher sei ihre Nachricht an die Welt eindeutig. Kalesis:

Wir präsentieren eine Stadt, die trotz aller ihrer Probleme immer noch in die Kultur investiert.“

Bürgermeister Giorgos Tsoukalas erklärte diesen scheinbaren Widerspruch mit den Worten: „Wir wollen, dass die Menschen, die sehr hart arbeiten und es sich nicht leisten können, oft nach Athen zu reisen, in ihrer Freizeit hohe Lebensqualität genießen können.“

Für sie sei das Ziel dieses Projekts nicht explizit die Entwicklung des Tourismus. In einer Umgebung, in der fast nur Arbeiter leben, hielten sie es für besonders wichtig, die Kultur zu fördern. „Es geht darum, wie wir das Gefühl für Kultur in alle Lebensbereiche einbringen können, um die Stadt selbst und ihre Bewohner zu verändern“, erklärt Tsoukalas.

Die ganze Stadt ist praktisch eine archäologische Stätte. Unter jedem Gebäude und Industriekomplex finden sich antike Überreste. Foto: iStock

Im Jahr 2023 steht die Mystik im Mittelpunkt der Programme

Im Rahmen des Projekts Kulturhauptstadt finden in der Hafenstadt eine Reihe Renovierungs- und Erneuerungsarbeiten statt. Touristische Highlights sind die archäologischen Ausgrabungen des Demeter-Heiligtums. Auch die alte Ölmühle aus dem Jahr 1875 mit ihrem Freilichttheater mit 2.000 Plätzen, der historische Bahnhof aus dem Jahr 1884 und das Rathaus aus dem Jahr 1928 werden derzeit erneuert.

Alle Aktivitäten des Kulturhauptstadtjahres sind durch die Geschichte und Mythologie der Stadt geprägt – unter dem Veranstaltungsmotto „Mysterien des Übergangs“.

Direktor Michail Marmarinos hat mehr als 300 Künstler aus 30 Ländern eingeladen, die Geschichte von Elefsína an 30 Orten in der Stadt erfahrbar zu machen. Insgesamt präsentieren sich in diesem Jahr 465 „Mysterien“. Konzerte, Tanzaufführungen, Straßenperformances, Filme und Ausstellungen sind Teil des Konzepts. Sie veranschaulichen den Wandel der Stadt im Laufe der Jahrhunderte.

Der Ort ist bereit, seine Geschichte, seine Gesichter und seine einzigartige Schönheit zu offenbaren. Einheimische erhoffen sich eine Erneuerung der  klassisch inspirierten Welt. So könnte auch der Name des Ortes wieder an Bedeutung gewinnen: „Elefsína stammt vom griechischen Wort ‚Elefsis‘, was ‚Ankunft‘ bedeutet“, erzählt Hara Efthymiopoulou, die tagsüber in einem Kiosk arbeitet und sich nachts der Malerei widmet.

Traditionelle griechische Volkstänzer sind ein fester Bestandteil der Kulturprogramme. Voller Freude leben sie ihre Traditionen weiter, gerade auch im öffentlichen Raum. Foto: iStock



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