Geopolitisch gesehen: Deutschlands Lage zwischen den Fronten

Noch ist alles offen im ukrainisch-russischen Krieg, doch zu sehen sind aus einem größeren Blickwinkel allseits nur Verlierer. Epoch Times im Gespräch mit Alexander Rahr.
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Am 26. April demontierte die Stadt Kiew die Figuren des Denkmals „Freundschaft der Völker“. Bürgermeister Vitali Klitschko kündigte in den sozialen Medien an, dass die acht Meter hohe Statue von Männern, die ein sternförmiges Emblem mit den Aufschriften „Völkerfreundschaft“ und „UdSSR“ halten, aus der Stadt entfernt und der Metallbogen darüber umbenannt werden soll.Foto: Alexey Furman/Getty Images
Von 30. April 2022


Ein Friedensabschluss im ukrainisch-russischen Krieg ist noch nicht in Sicht. Zu viele Interessen spielen eine Rolle, beobachtet Professor Alexander Rahr, einer der erfahrensten Osteuropa-Historiker und Politologen Deutschlands.

Die jüngste Wende in der deutschen Politik hin zur Lieferung von Flugabwehrpanzern sei jedoch eigentlich vorhersehbar gewesen – denn Berlin möchte seine Führungsrolle in Europa behalten. Der Druck auf die Bundesregierung sei enorm, so Rahr, der auch als Honorarprofessor und Publizist tätig ist. Gleichzeitig befürchtet die Mehrheit der Deutschen eine Ausweitung des Krieges wegen der Waffenlieferungen. Ihn erinnert das Szenario an Georg Orwells „1984“.

Ist diese Wende der Bundesregierung für Sie überraschend?

Eigentlich war diese Wende voraussehbar. Deutschland kann seine Führungsansprüche in Europa und seine Solidarität bzw. Bündnistreue zur transatlantischen Gemeinschaft jetzt nur durch die von den Verbündeten vehement geforderten Waffenlieferungen an die Ukraine sicherstellen. Berlin hat sich, wie der gesamte Westen, im Krieg eindeutig auf die Seite der Ukraine gestellt und Russland als Aggressor verurteilt.

Eine neutrale Vermittlungsrolle im russisch-ukrainischen Konflikt zu spielen, wie es Bundeskanzlerin Merkel mit den Minsker Abkommen zwischen 2015 und 2021 ergebnislos versucht hat – das kommt für die Scholz-Regierung nicht mehr infrage. Die Zeitenwende ist eingetreten.

In der künftigen europäischen Sicherheitsordnung wird Deutschland mit der NATO höchstwahrscheinlich auf eine Eindämmung und nicht mehr Einbindung Russlands setzen.

Was könnten Ihrer Meinung nach die bewegenden Gründe für diese Kehrtwende sein? Was könnte dahinter stecken?

Dass Scholz und viele andere besonnene Politiker vor der Gefahr eines Atomkrieges im Konflikt mit der zweitmächtigsten Nuklearmacht der Welt warnen, ist richtig. Dass die Mehrheit der Deutschen, von den schrecklichen Kriegserinnerungen des 20. Jahrhunderts noch geprägt, Angst vor einem dritten Weltkrieg haben, ist natürlich.

Gleichzeitig ist Deutschland durch seine östlichen NATO-Verbündeten und die USA unter immensen Druck geraten – wegen seines traditionellen Hangs zur Entspannungspolitik und Annäherung in der Ostpolitik an Moskau.

Der Regierungspartei SPD wird vorgeworfen, Russlands revisionistische Politik seit 2014 ignoriert zu haben. Statt sich zu wehren und auf die vielen Erfolge der Entspannungspolitik, einschliesslich der dadurch ermöglichten Wiedervereinigung Deutschlands (1990) hinzuweisen, scheint sich die SPD von ihrer DNA – der Brandtschen Friedenspolitik – loszusagen.

Aber auch die CDU wird Merkels Russlandpolitik mit der Zeit kritischer betrachten, und die FDP wird künftig versuchen wollen, weniger an Genscher zu erinnern. Hier überwiegt die Solidarität mit der historischen Opferrolle der Mittelosteuropäer, die jetzt auch die Ukraine einnimmt, aber auch der Wille, nicht der Bündnisuntreue angeklagt zu werden, was den Führungsanspruch Deutschlands in Europa infrage stellen könnte.

Vielleicht wird jetzt Macron nach seinem Wahlsieg wichtige Impulse für den Erhalt der deutsch-französischen Führungsrolle in Europa aussenden und damit Scholz stützen.

Der russische Außenminister Lawrow warnt vor der „ernsten” Gefahr eines dritten Weltkriegs. Welche Ziele verfolgen Ihrer Meinung nach die verschiedenen Seiten – Russland, USA, NATO und Ukraine?

Es gehört zur Kriegstaktik Moskaus, die NATO, die den Sieg der Ukraine über Russland proklamieren will, vor einer direkten Einmischung zu warnen – eben mit der Erinnerung an die Tausenden atomaren Sprengköpfe, die auf ballistischen Raketen oder Abschussrampen auf U-Booten montiert sind, oder taktische Atomwaffen, alle jederzeit einsatzfähig – gegen die NATO.

Was die Kriegsziele angeht, glaube ich nicht, dass Russland immer noch den Plan hegt, die gesamte Ukraine einzunehmen. Die Stellungen um Kiew herum wurden geräumt. Russland wird versuchen, die ukrainische Armee im Donbas einzukesseln und die Kontrolle über die gesamte Ostukraine zu gewinnen, um künftig einen Puffer gegen die NATO zu bilden.

Die USA und EU schätzen diese Ziele als völlig unrealistisch und als nicht verhandelbar ein. Schon deshalb ist ein Friedensabschluss nicht in Sicht. Auch die Ukraine scheint von einer Kriegsniederlage Russlands auszugehen, denn sie hat erreicht, dass der kollektive Westen sie militärisch massiv unterstützt.

Der Kriegsausgang ist noch offen. Ich glaube aber denjenigen Sicherheitsexperten, die sagen, Russland kämpfe bislang nur konventionell verlustreich – aber man sollte nicht vergessen, dass das eigentliche russische modernste Waffenarsenal noch gar keine Anwendung gefunden hat. Wie der Kriegsverlauf aussehen wird, wenn Hyperschall- und andere Waffengattungen zur Geltung kommen, kann man nur erahnen. Aber werden sie überhaupt eingesetzt? Niemand weiß es.

Warum wird das Stahlwerk in Mariupol – Asowstal – so umkämpft? Welche Rolle spielt das Asow-Batallion?

Für Putin ist das Asow-Batallion, eine ukrainische Söldnertruppe, die seit 2014 im Donbas kämpft, der Inbegriff des Nazismus, den zu beseitigen erklärtes Kriegsziel der Russen ist.

Vermutlich will Moskau den Kommandeuren dieser Truppe den Schauprozess machen, falls sie sich ergeben – um die „Entnazifizierung“ als Erfolg zu verkünden. Die Kampfstärke des Asow-Batallions zeigte sich allerdings darin, dass die Schlacht um Mariopol solange dauerte, so verlustreich und fürchterlich zerstörerisch endete.

Die Gaslieferungen nach Polen und Bulgarien wurden eingestellt. Der Westen zerlegt mit den Sanktionen seine eigene Wirtschaft. Doch was will er gewinnen?

Gewinnen tut erst mal keiner. Ich sehe nur Verlierer. Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass der Krieg nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern momentan global über Sanktionen und Embargos ausgefochten wird.

Der Westen hat einen Großteil der russischen Finanzreserven, die sich im Ausland fanden, eingefroren. Russland schlägt mit der Rohstoffwaffe zurück. Der Westen will die russische Wirtschaft zerstören, damit Russland den Krieg stoppt. Russland bricht die Wirtschaftskooperation mit Europa ab und versucht sich mit Hilfe von Asien wirtschaftlich neu aufzurichten.

Moskau rückt zu China – sonstige Alternativen hat es nicht. Das ist eine weitere Zeitenwende, deren Zeugen wir sind. Wir erleben eine Neuvermessung der Welt, das Ende der Globalisierung, vermutlich das Entstehen neuer Macht- und Militärblöcke sowie neuartiger, gefährlicher Ideologien.

Die Chance auf eine weltweite Friedensordnung, die nach dem Ende der Sowjetunion zum Greifen nahe war, ist vertan.

In Deutschland bekommt man derzeit nur sehr wenige Informationen über Russland, wie schätzen Sie die gesellschaftliche, wirtschaftliche Lage dort ein?

Die anfängliche Hoffnung westlicher Politiker, die russische Bevölkerung würde sich größtenteils gegen den Krieg stellen (den in der Tat kaum jemand erwartet hat), hat sich nicht erfüllt. Putins Macht bröckelt nicht, das Feindbild Westen nimmt feste Formen an, wie bei uns im Westen umgekehrt das russische Feindbild. Das ist so im Krieg.

Hoffnungen des Westens auf einen Zusammenbruch der russischen Wirtschaft haben sich ebenfalls nicht erfüllt, zumindest kurzfristig. Russland hat einen riesigen Binnenmarkt und einen autarken Rubel, die ein autonomes Wirken ermöglichen.

Zudem beteiligen sich asiatische Staaten und Konzerne nicht an den westlichen Sanktionen. Im Gegenteil, Inder, Chinesen, Türken, auch arabische Staaten wollen die Investitionslücken, die durch den Exodus westlicher Firmen entstanden sind, schließen. Das ist die momentane Analyse.

Wie sehen Sie die aktuelle mediale Berichterstattung zum Krieg sowie die Kommunikation und den Meinungsaustausch in wissenschaftlichen Kreisen?

Ein Informations- und Meinungsaustausch zwischen wissenschaftlichen und akademischen Einrichtungen im Westen und Russland findet nach meiner Beobachtung nicht statt.

In Russland herrscht eine drastische Zensur, was die Kriegsberichterstattung angeht. Im Westen ist die russische Meinung als Propaganda verboten worden. Überall verengen sich die Meinungskorridore, von Publizisten wird die richtige Haltung verlangt.

Aber anders als im Kalten Krieg kann man die Informationsräume nicht gänzlich voneinander isolieren. Ich lese bekannte russische Wissenschaftler, die sich darüber auslassen, wie die multipolare Weltordnung, der Russland durch den Krieg in der Ukraine den finalen Anstoß gegeben haben soll, funktionieren wird.

Irgendwann wird man aber bilaterale Gespräche wieder führen müssen, es sei denn, beide Seiten beschließen die einvernehmliche Trennung. Das alles wird davon abhängen, wie der Krieg ausgeht.

Als Historiker und Geopolitik-Experte: Wie ist Ihre Analyse zu den kurz- und langfristigen Auswirkungen des Krieges auf die geopolitische Welt-Ordnung?

Schwierige Frage. Auch hier wird entscheidend sein, mit welchem Resultat der Krieg endet. In meinem futuristischen Buch „2054. Putin decodiert“ aus dem Jahre 2018, beschreibe ich eine künftige trilaterale Weltordnung folgendermaßen: Transatlantischer Block unter Führung der USA, Eurasische Allianz mit einer Dominanz Chinas und ein erstarkter Islamismus im Mittleren und Nahen Osten und Teilen Afrikas.

Das ist die Welt, die auch Orwell in seinem Roman „1984“ beschreibt. Die Dreiteilung der Welt dürfte bald für jedermann sichtbar sein.

Der Artikel erschien zuerst in unserer Wochenzeitung Ausgabe 42 vom 30. April.



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