„Bundes-Notbremse“ passiert den Bundesrat – Haseloff: „Tiefpunkt in der föderalen Kultur der Bundesrepublik“

Die bundeseinheitliche Notbremse zur Eindämmung der Corona-Pandemie ist unter Dach und Fach: Nach dem Bundestag passierte die Neuregelung trotz erheblicher Kritik aus den Ländern am Donnerstag auch den Bundesrat. Eine erste Verfassungsbeschwerde gegen das Infektionsschutzgesetz wurde eingereicht.
Epoch Times22. April 2021

Die bundeseinheitliche Notbremse zur Eindämmung der Corona-Pandemie kann aktiviert werden: Nach dem Bundestag passierte die Neuregelung trotz erheblicher Kritik aus den Ländern am Donnerstag auch den Bundesrat. Der Vorsitzende der Ministerpräsidentenkonferenz, Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) sagte, die Erfahrungen der Länder hätten stärker in das Gesetz einfließen sollen. Bundesratspräsident Reiner Haseloff (CDU) sprach von einem „Tiefpunkt in der föderalen Kultur der Bundesrepublik Deutschland“.

Müller verwies darauf, dass es bereits umfangreiche Maßnahmen in den Ländern gebe, wo angepasst an die Situation vor Ort gehandelt werde. Die jetzt vom Bund beschlossenen Regelungen bezeichnete er als zum Teil untauglich. Die für Schulschließungen festgelegte Grenze von einer 165er-Inzidenz „löst es weder in die eine noch die andere Richtung“.

Müller zeigte sich zudem über Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) „verärgert“. Sie habe eine bundeseinheitliche Regelung in einer Talkshow angekündigt – dann sei im Kanzleramt offenbar erst einmal zwei Wochen nachgedacht wurden.

Haseloff nannte „Entstehung, Ausgestaltung und Ergebnis unbefriedigend“. Es stelle sich die Frage, „worin der Mehrwert dieses Gesetzes für die Menschen in Deutschland liegt“, erklärte er. Vieles, was Länder im Testmodus ausprobiert hätten, sei jetzt ausgeschlossen.

Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) kritisierte ebenso wie Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) die nächtliche Ausgangssperre. Deren Verfassungsmäßigkeit stehe in Frage, sagte er. „Für den Infektionsschutz ist das kein großer Wurf“, sagte er.

Der saarländische Ministerpräsident Tobias Hans (CDU) sagte, vieles könne besser vor Ort entschieden werden. Er verwies darauf, dass das Infektionsgeschehen teilweise diffus, manchmal aber auch in Clustern verlaufe. Er kritisierte zudem, dass der Inzidenzwert der alleinige Maßstab für die Maßnahmen sei.

Thüringens Regierungschef Bodo Ramelow (Linke) zeigte sich verärgert darüber, dass es seit einiger Zeit keine Beratungen der Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin gebe. Er müsse nunmehr Talkshows schauen, „um vielleicht zu erfahren, was von mir erwartet wird“.

Demgegenüber verteidigte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) die Neuregelung. Die Inzidenzwert müsse gesenkt werden, um das Gesundheitswesen zu entlasten, sagte er vor der Länderkammer. Die privaten Kontakte seien dabei der schwerste Bereich

Die Neufassung des Infektionsschutzgesetzes ist ein Einspruchsgesetz, zu dem die Länderkammer nicht aktiv zustimmen muss, um es in Kraft treten zu lassen. Sie hätte dafür mit Mehrheit den Vermittlungsausschuss anrufen müssen, was am Donnerstag aber nicht geschah.

Nunmehr muss es Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zugeleitet werden, der es ausfertigen muss. Es kann dann kommende Woche in Kraft treten.

Die Neuregelung sieht neben der Ausgangssperre zwischen 22.00 Uhr und 05.00 morgens bundeseinheitliche Regeln auch zu Kontaktbeschränkungen sowie der Schließung von Geschäften und Schulen vor. Die meisten Maßnahmen sollen ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von 100 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner gelten, Schulen müssen ab einer Inzidenz von 165 schließen.

Erste Verfassungsbeschwerde gegen Infektionsschutzgesetz eingereicht

Gegen das neue Infektionsschutzgesetz ist in Karlsruhe bereits die erste Verfassungsbeschwerde eingegangen. Der Rechtsanwalt Claus Pinkerneil bestätigte am Donnerstag auf Anfrage, dass er sich an das Bundesverfassungsgericht gewandt habe. Auch die FDP, die Freien Wähler und die Gesellschaft für Freiheitsrechte wollen gegen das Gesetz klagen.

Am Donnerstag machte der Bundesrat den Weg für die bundeseinheitliche Notbremse zur Eindämmung der Corona-Pandemie frei. Die Länderkammer ließ das am Mittwoch vom Bundestag beschlossene Gesetz passieren, das unter anderem nächtliche Ausgangssperren vorsieht.

Pinkerneil sagte, er habe erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes. Sein Hauptanstoß sei die Tatsache gewesen, dass sich die Neuregelung der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle entziehe. Es bleibe nur die Verfassungsbeschwerde.

Er hofft darauf, dass die Karlsruher Richter die Ausfertigung des Gesetzes durch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier vorläufig stoppen. Dies hatte das Gericht Ende März schon einmal getan, als es Steinmeier die Unterzeichnung des Ratifizierungsgesetzes für den EU-Corona-Hilfsfonds bis zur Entscheidung über den Eilantrag untersagte.

Im Idealfall ließe sich aus einem solchen Hängebeschluss möglicherweise schon eine Tendenz ablesen, wie Karlsruhe das Gesetz sehe, sagte Pinkerneil. Ein Gerichtssprecher bestätigte den Eingang seiner Verfassungsbeschwerde.

Freie Wähler wollen nach Unterschrift von Bundespräsident gegen Notbremse klagen

Die Freien Wähler wollen Verfassungsbeschwerde gegen die im neuen Infektionsschutzgesetz vorgesehenen bundesweite Notbremse einlegen, sobald das Gesetz von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier unterschrieben ist. Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger nannte die Regelung am Donnerstag in Berlin „demokratiegefährdend“. Er kündigte an, auch Klagen gegen die Einschränkungen für Handel und Gastronomie zu prüfen.

Den Freien Wählern zufolge ist die von ihnen bereits vor der Zustimmung von Bundestag und Bundesrat angekündigte Klage in Karlsruhe im Entwurf fertig. Sollte Steinmeier nicht von seiner Möglichkeit Gebrauch machen, auf eine Unterschrift unter das von den Freien Wählern als verfassungsfeindlich eingestufte Gesetz zu verzichten, werde die Klage eingereicht.

Aiwanger, der in Bayern Wirtschaftsminister und stellvertretender Ministerpräsident ist, sagte, die Freien Wähler hätten hier eine andere Auffassung als ihr Koalitionspartner CSU, weshalb es im Bundesrat keinen Vorstoß Bayerns gegen die Regelung gebe. „Die CSU war hier anderer Meinung – und wenn sich zwei nicht einig sind in einer Landesregierung, dann gibt es eben keinen Vorstoß.“ (afp)

Die wichtigsten Regelungen des neuen Infektionsschutzgesetzes im Überblick:

AUSGANGSSPERRE

In Gebieten mit einer Sieben-Tage-Inzidenz von mehr als 100 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner gilt von 22.00 Uhr bis 05.00 Uhr morgens eine Ausgangssperre. Zwischen 22.00 und 24.00 Uhr bleibt die „im Freien stattfindende körperliche Bewegung alleine“ erlaubt, also zum Beispiel Joggen ohne Begleitung. Der Weg zur Arbeit oder der Arztbesuch im Notfall sind immer erlaubt.

KONTAKTBESCHRÄNKUNGEN

In der Öffentlichkeit oder Privaträumen dürfen sich die Angehörigen eines Haushaltes nur mit einem weiteren Menschen treffen, „einschließlich der zu ihrem Haushalt gehörenden Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres“. Erlaubt sind zudem Zusammenkünfte zwischen den Angehörigen desselben Haushalts sowie von Ehe- oder Lebenspartnern – oder wenn ein Sorgerecht wahrgenommen wird.

SCHULEN

Schüler und Lehrer müssen sich für die Teilnahme am Präsenzunterricht zweimal pro Woche testen lassen. Ab einer Inzidenz von 100 ist Wechselunterricht vorgeschrieben, ab einem Wert von 165 nur noch Distanzunterricht erlaubt.

ARBEITSWELT

Firmen müssen den Beschäftigten im Fall von Büroarbeit anbieten, diese in der eigenen Wohnung auszuführen, „wenn keine zwingenden betriebsbedingten Gründe entgegenstehen“. Die Beschäftigten müssen dieses Angebot annehmen, „soweit ihrerseits keine Gründe entgegenstehen“. Die Vorgabe gilt unabhängig von der Inzidenz.

Wer nicht im Homeoffice arbeiten kann, dem muss die Firma einmal wöchentlich einen Test anbieten. Beschäftigte mit häufigem Kundenkontakt oder in körpernahen Dienstleistungen haben das Recht auf zwei Tests pro Woche. Nach Angaben der SPD sollen bald generell zwei Tests pro Woche angeboten werden müssen.

EINZELHANDEL

Läden des täglichen Bedarfs wie etwa Supermärkte oder Drogerien bleiben wie bisher unabhängig von der Inzidenz geöffnet – alle anderen werden geschlossen. Bei einer Inzidenz zwischen 100 und 150 ist allerdings Shoppen nach vorheriger Terminbuchung möglich. Voraussetzung ist unter anderem ein negativer Corona-Test. Unabhängig von der Inzidenz kann bestellte Ware im Geschäft abgeholt werden.

SPORT:

Es ist nur die „kontaktlose Ausübung von Individualsportarten“ erlaubt – und zwar allein, zu zweit oder mit den Angehörigen des eigenen Hausstands. Bei Kindern gilt eine Obergrenze von fünf. Zulässig ist zudem der Wettkampf- und Trainingsbetriebs der Berufssportler und der Leistungssportler der Bundes- und Landeskader – aber nur ohne Zuschauer und mit Hygienekonzept.

FREIZEIT UND KULTUR:

Freizeitparks, Indoorspielplätze, Schwimmbäder, Diskotheken, Clubs, Spielhallen, Spielbanken, Wettannahmestellen, Prostitutionsstätten bleiben ebenso geschlossen wie Theater, Opern, Konzerthäuser, Bühnen, Musikclubs, Kinos, Museen, Ausstellungen und Gedenkstätten.

ZOOS UND BOTANISCHE GÄRTEN

Die Außenbereiche solcher Einrichtungen sollen weiter öffnen können, wenn „angemessene Schutz- und Hygienekonzepte“ eingehalten werden. Außerdem müssen Besucher ab sechs Jahren einen negativen Corona-Test vorweisen.

WEITERE REGELUNGEN

An Veranstaltungen anlässlich von Todesfällen – etwa Beerdigungen – dürfen maximal 30 Menschen teilnehmen. Friseure und Fußpfleger dürfen auch bei Inzidenzen über 100 am Kunden arbeiten. Für Fahrgäste im öffentlichen Personenverkehr sind FFP2-Masken vorgeschrieben; bei Kontroll- und Servicepersonal, das Kontakt zu den Passagieren hat, reicht eine OP-Maske.

VERORDNUNGEN

Weitere Maßnahmen kann der Bund per Rechtsverordnung erlassen, Bundestag und Bundesrat müssen zustimmen. Explizit wird die Bundesregierung ermächtigt, Erleichterungen für Menschen festzulegen, die vollständig geimpft sind. Auch für negativ Getestete soll es Ausnahmen geben können.

LAUFZEIT

Das Gesetz soll so lange gelten, wie der Bundestag eine epidemische Lage von nationaler Tragweite feststellt – „längstens jedoch bis zum Ablauf des 30. Juni 2021“.

KLAGEN:

Wer wegen eines Verstoßes gegen die künftige Notbremse zur Eindämmung der Corona-Krise verstößt und ein Bußgeld bekommt, kann dagegen vor einem Verwaltungsgericht klagen. Zudem gibt es die Möglichkeit der vorbeugenden Feststellungsklage, mit der geklärt wird, ob jemand tatsächlich von der Regelung betroffen ist. Schließlich bleibt der Weg zum Bundesverfassungsgericht.

(afp/dts/dpa)

 

 



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