Kritikern und Zweiflern droht Besuch vom „Wahrheitsministerium“

Bundesinnenministerium und Verfassungsschutz fürchten eine „Delegitimierung des Staates“ und schaffen einen neuen „Phänomenbereich“. Ein Jurist nennt Vorstoß der Regierung rechtswidrig.
Ein komplett zerstörtes Haus in Marienthal im Ahrtal. Das kleine Dorf wurde weitestgehend zerstört.
Foto: Boris Roessler/dpa
Von 18. Juni 2022

Wer künftig öffentlich Kritik an der Politik der Bundesregierung übt, läuft Gefahr, ins Visier des Verfassungsschutzes zu geraten. Das offenbart der Bericht der Behörde für das Jahr 2021, den Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und Thomas Haldenwang, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, am Dienstag, 7. Juni, vorgestellt haben.

In dem Bericht ist erstmals der „Phänomenbereich verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ aufgeführt. Unter Faesers Vorgänger Horst Seehofer (CSU) hatte das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) im April 2021 angekündigt, diesen „Phänomenbereich“ einzuführen, um zum Beispiel die Querdenker-Szene besser einordnen zu können.  

„Staatliches System wird erschüttert“

Dem neuen Phänomenbereich sind zwar nur neun des insgesamt 368 Seiten umfassenden Berichtes gewidmet, doch die haben es in sich.

So heißt es da beispielsweise: „Der Staat und seine Institutionen werden in ihrer Legitimität grundsätzlich infrage gestellt. Maßnahmen zur Bekämpfung der Coronapandemie werden als diktatorisch bezeichnet. Auf diesem Narrativ aufbauend, wird Widerstand gegen staatliche Maßnahmen und Entscheidungen propagiert und zu Gewalt und in Einzelfällen sogar zu Mord aufgerufen.“

Dem Bericht zufolge machen Kritiker der Regierungspolitik „demokratische Entscheidungsprozesse und Institutionen von Legislative, Exekutive und Judikative verächtlich, sprechen ihnen öffentlich die Legitimität ab und rufen zum Ignorieren behördlicher oder gerichtlicher Anordnungen und Entscheidungen auf“. 

Dadurch könne das „staatliche System insgesamt erschüttert und dessen Funktionsfähigkeit beeinträchtigt werden“. Eine „derartige Agitation“ stehe im Widerspruch zu elementaren Verfassungsgrundsätzen wie dem Demokratie- oder dem Rechtsstaatsprinzip.

Wer also künftig auf Demonstrationen, in Videos, sozialen Netzwerken und anderweitig öffentlich durch kritische Worte auffällt beziehungsweise nicht die Meinung der Regierung vertritt, riskiert Hausdurchsuchung und Verhaftung. 

Querdenker-Szene pauschal gewaltbereit

In der Folge widmet sich der Bericht der Querdenker-Szene, die pauschal als gewaltbereit, staats- und verfassungsfeindlich und als Verbreiter von Unwahrheiten in allen möglichen Facetten dargestellt wird.

Der Bericht vermittelt den Eindruck, dass die gewaltsamen Einsätze der Polizei – etwa bei Demonstrationen in Berlin – grundsätzlich durch Protestierende ausgelöst wurden. Die „Angehörigen des Phänomenbereichs“ versuchten, das Vertrauen in die parlamentarische Demokratie, in staatliche Institutionen sowie in Wissenschaft und Medien zu untergraben.

Wer es also wage, nicht nur die Politik der Regierung infrage zu stellen, sondern auch Zweifel an Forschungsergebnissen und Berichten aus Nachrichtensendungen hegt, gerate unter Umständen schnell ins Fadenkreuz von Ermittlern des „Wahrheitsministeriums“, wie Julian Reichelt, ehemaliger Chefredakteur der „Bild“, die Behörde in seinem YouTube-Video zum Verfassungsschutzbericht nennt.

Staat verurteilt private Hilfsmaßnahmen im Ahrtal

Als weiteres Beispiel für die angeblichen Versuche der Delegitimierung dienen dem Verfassungsschutz die privaten Hilfsmaßnahmen für die Opfer der Flutkatastrophe im Ahrtal. „Einerseits gerierte man sich hierbei als Kümmerer und sammelte beziehungsweise verteilte Geld- und Sachspenden an die örtliche Bevölkerung. Andererseits erweckte man aktiv den Eindruck, dass staatliche Stellen bewusst nur unzureichend an der Verbesserung der Versorgungslage arbeiten würden beziehungsweise mit der Bewältigung der Lage komplett überfordert gewesen seien“, heißt es in dem Bericht.

So seien dort „einzelne, bereits extremistisch in Erscheinung getretene Personen“ in Erscheinung getreten. Zahlen nennt der Bericht auch hier zur besseren Einordnung nicht. 

Daher, so die Schlussfolgerung der Bundesbehörde, sei anzunehmen, dass über die Coronapandemie hinaus auch künftig andere gesellschaftliche Krisensituationen von Angehörigen des Phänomenbereichs dazu genutzt würden, „um staatliche Stellen und politisch Verantwortliche herabzusetzen“. 

In Betracht sei etwa die verstärkte Thematisierung der politischen Maßnahmen zur Bewältigung des Klimawandels zu ziehen. Durch anhaltende kritische Äußerungen könne „einem Verlust des Vertrauens der Bevölkerung in die Funktionsfähigkeit des demokratischen Staates Vorschub geleistet werden“.

Staat überschreitet Grenzen

Definiert wird der Begriff „Delegitimierung“ im Übrigen nicht. Wie er auszulegen ist, bleibt somit im Ermessensspielraum von Ministerin Faeser oder des Verfassungsschutzes. 

Nach Ansicht eines Juristen, der nicht genannt werden möchte, ist dieser neue Phänomenbereich verfassungswidrig. Der rechtliche Rahmen für die Beobachtung von Bestrebungen oder Einzelpersonen wird durch das Bundesverfassungsschutzgesetz vorgegeben. Entscheidend sei Paragraf 3, in dem es auf die Gefährdung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung ankomme.

Die sogenannten „Phänomenbereiche“ seien Arbeitsbegriffe, die aus dieser gesetzlichen Grundlage abgeleitet würden. Daher benötigten sie auch keine Zustimmung des Parlaments. Die vom Verfassungsschutz verwendeten Phänomenbereiche dürften allerdings nicht über den gesetzlichen Rahmen hinausgehen. Ein Phänomenbereich, der auch Bestrebungen erfasse, die nicht die gesetzlichen Voraussetzungen im genannten Paragrafen erfüllen, sei daher rechtswidrig. Bei der „verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates“ werde diese Grenze überschritten. 

Ex-Bild-Chef Julian Reichelt kommentiert die Pläne von Innenministerium und Verfassungsschutz in seinem Video wie folgt: „Ein Staat, der ein solches Monstrum schafft, hat Angst vor seinen eigenen Bürgern. Und vor einer Regierung, die ein solches Monstrum einsetzt, muss man als Bürger Angst haben.“

Dem rechtsextremen Milieu ordnet der Verfassungsschutz unter anderem auch das Magazin Compact des Verlegers Jürgen Elsässer hinzu. Auf Seite 98 des Berichts heißt es dazu unter anderem, dass das Magazin sich im Umfeld des Widerstands verorte und auch „von anderen Akteuren der Neuen Rechten (…) wahrgenommen wird“. Das Magazin bediene sich einer „Widerstands- und Revolutionsrhetorik“, indem es die Bundesregierung als „zu stürzendes Regime“ darstelle. Geschichtsrevisionistische Inhalte und „antisemitisch konnotierte Verschwörungstheorien“ ergänzten die Compact-Agenda.



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