„Haben uns von unseren Wählern entfernt“ – FDP-Urgestein Zastrow verlässt die Partei

Der frühere FDP-Spitzenpolitiker und heutige Fraktionsvorsitzende im Dresdner Stadtrat, Holger Zastrow, hat seinen Bruch mit Parteispitze und Bundestagsfraktion vollzogen. In einem Brandbrief äußerte er scharfe Kritik, auch an den Grünen: Die Lage erinnere ihn an 1989.
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Der frühere FDP-Spitzenpolitiker Holger Zastrow will den Kurs der Partei als Dresdner Stadtrat nicht mehr mittragen.Foto: HANNIBAL HANSCHKE/AFP/Getty Images)
Von 17. Januar 2024

Mit Holger Zastrow (55) hat ein Urgestein der deutschen Freidemokratie nach über drei Jahrzehnten Mitgliedschaft sein FDP-Parteibuch abgegeben. Der frühere stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende, langjährige sächsische Parteichef und Landtagsfraktionsvorsitzende begründete seinen Schritt am 16. Januar 2024 auf der sozialen Plattform „X“ in einem offenen Brandbrief.

Demnach sieht der Chef einer Werbeagentur „die Politik, die Parlamente, die Parteien […] in einer schweren Krise“. Auch wenn sein Parteiaustritt ihn innerlich zerreiße, sehe er „keinen anderen Weg mehr“. „Ich ertrage die Berliner Politik nicht mehr“, sagte Zastrow in der „Bild“. Den Ausschlag habe letztlich die Rede von FDP-Parteichef und Bundesfinanzminister Christian Lindner auf der Berliner Bauerndemo vom 15. Januar gegeben. Zastrow wörtlich auf X:

Ich habe heute nach 30 Jahren die #FDP verlassen. Die Entscheidung fiel mir nicht leicht und ist für mich hochemotional. Aber es geht nicht mehr. Die Rede des Bundesvorsitzenden bei der #Bauerndemo gestern war der letzte Tropfen. Das ist es aber nicht allein.“

Darunter postete der Dresdener Stadtrat seine ausführliche Austrittserklärung, in der er den Landesverband Sachsen und die Dresdner Stadtratsfraktion seiner Sympathie versicherte, „die Bundespartei und die Bundestagsfraktion“ aber scharf kritisierte: „Meine Vorstellungen von Politik und Partei, von liberaler Politik und Partei sind anders als von der FDP gelebt“, schrieb Zastrow, „Es passt nicht mehr“. Die komplette Erklärung Zastrows ist im „Blogmagazin“ nachzulesen.

Als ein Mann, der in Dresden „in der Öffentlichkeit“ stehe und dort weit überdurchschnittliche Wahlergebnisse für die FDP einfahre, könne er, Zastrow, allerdings „keine Politik verteidigen, die sich praktisch gegen die Mehrheit meiner Wähler, meine Mitstreiter, Kollegen und Freunde“ richte.

Ich lebe wohl in einer anderen Welt als meine Partei. Ich sehe andere Probleme und andere Lösungen. Ich will den Leuten noch in die Augen schauen können.“

Ein Déjà-vu des Jahres 1989

Wochenlang habe er „gezögert und gezaudert“ und „nach einem Zeichen gesucht, das mich hält, einen Strohhalm, der sagt ‚bleib‘“. Doch dann habe er in Lindners Rede zu den Landwirten den „Tiefpunkt in mehr als 30 Jahren FDP“ erkannt. Lindners Auftritt habe ihn „an die stets gleichen Parolen, Sprüche und perfekt formulierten Programme“ erinnert, die er „seit 30 Jahren höre und für die ich seit 30 Jahren um Zustimmung werbe“. Und an 1989: „Es ist ein Déjà-vu“.

„Am Brandenburger Tor standen nicht unsere Feinde. Da standen in relevanter Zahl auch unsere Freunde und Leute, die auf uns gesetzt haben“, gab Zastrow zu bedenken. „Wir haben sie verloren und ich befürchte endgültig“. Nun wendeten sich die Leute eben „in großer Zahl Gruppierungen“ zu, „die die Probleme unseres Landes nicht lösen werden“. Zastrow gab sich mehr als enttäuscht:

Die Politik der Ampel ist aus meiner Sicht falsch und zwar so vollkommen, dass ich es kaum in Worte fassen kann. Nahezu nichts entspricht meiner Erwartung, nichts ist wirklich gut für unser Land.“

„Unterstützung der Bevölkerung längst verloren“

Die Partei FDP sei nun „Teil der vermutlich schlechtesten Regierung in der Geschichte der Bundesrepublik“, konstatierte Zastrow. Zudem habe die Bundesregierung „die Unterstützung der Bevölkerung längst verloren“. Das gelte nicht nur für die „Leistungsträger unseres Landes, die Freiheitlichen, die Marktwirtschaftler, die Individualisten, die Anpacker“, sondern für die Mehrheit insgesamt. Dabei habe Parteichef Lindner einst selbst gesagt, dass es besser sei, „nicht zu regieren, als schlecht zu regieren“. Doch von dieser Haltung ist angesichts des andauernden Ampelbündnisses für Zastrow offensichtlich nichts mehr zu spüren.

Grüne als „Gefahr für die liberale Gesellschaft“

Den Grünen gehe „es darum, Recht zu haben und unter Inanspruchnahme allerlei Bedrohungs- und Angstszenarien das Land fundamental umzugestalten. Auf Kosten liberaler Werte wie der Freiheit und der wirtschaftlichen Zukunftsfähigkeit“, wie Zastrow ergänzte.

Dass die Grünen „mit ihrem Menschenbild und ihrer gesellschaftlichen Vorstellung eine Gefahr für die liberale Gesellschaft“ seien, hätte die Parteispitze „allerspätestens vor einem halben Jahr“ den „historischen Fehler“ merken müssen, als die „Debatte um das Heizungsgesetz“ aufgeflammt war. Doch „leider“ habe der FDP „der Mut oder die Überzeugung“ gefehlt, die Ampel zu verlassen. Nun habe Lindner eine weitere Gelegenheit dazu mit den Bauernprotesten verstreichen lassen. Das halte die Grünen weiter „im Spiel“ und mache somit „falsche Weichenstellungen in unserer Gesellschaft erst möglich“.

Jedoch werde die Partei „einen hohen Preis“ dafür zahlen, dass sie „stur und starr“ weitermache, anstatt sofort umzukehren. Mithilfe der Medien aber habe man sich in einer eigenen „Blase“ wohl längst ein ganz eigenes Umfeld geschaffen:

Längst regiert die Politik am Volk vorbei, längst hat sie die Bindung zu ihren Bürgern verloren, Randthemen sind wichtiger als die Grundlagen, Rituale wichtiger als ehrliche Arbeit, Wahrheiten werden genauso ausgeblendet wie der Blick auf die Realität. Man lebt in seinem Kokon, abgeschirmt von nicht wenigen Medien und Interessensvertretern, die ihnen eine Welt vorgaukeln, die es gar nicht gibt und die sie in gut und böse einteilen.“

„Alles bekannte Muster“

Parteipolitiker bekämen von der „Lebenswirklichkeit“ bestenfalls noch bei Protesten wie jenen von Berlin etwas mit. Weil das aber die „bequemen Komfortzone“ störe, greife man wie 1989 „zu Belehrungen“. Sei es damals in der DDR um die „Rowdys auf der Straße“ gegangen, heiße es heute, „dass die Form des Protestes so nicht gehe“ und schiebe „den Protest gleich mal direkt in die rechte Ecke“. Für Zastrow „Alles bekannte Muster“.

Schon der Sturz des ehemaligen FDP-Parteichefs Guido Westerwelle (+ 2016) habe einen „schleichenden Entfremdungsprozess“ bei ihm ausgelöst: „10 Jahre hat es gedauert, bis ich mir eingestanden habe, dass wir uns auseinandergelebt haben“. Der aktuelle Blick auf die Lage der Partei habe ihn bestärkt, Abstand von Parteispitze und Bundestagsfraktion zu gewinnen:

Die Debatte um den Haushalt, die vorgeschlagenen Kürzungen, die Erhöhung der Mehrwertsteuer in der Gastronomie, eine Mitgliederbefragung zum Verbleib in der Ampel, die in jeder Hinsicht Bände spricht, eine Europa-Spitzenkandidatin, die für eine Art der politischen Auseinandersetzung steht, die nicht meinem Bild von politischer Kultur entspricht. All das war nicht hilfreich.“

Zastrow spielte damit auf Marie-Agnes Strack-Zimmermann an, der Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses im Bundestag, die nach der EU-Wahl im Juni nach Brüssel wechseln will. Auch der Anfang Januar 2024 geäußerte Wunsch einer knappen Mehrheit von Mitgliedern, die FDP in der Ampel weiter machen zu lassen, erregte offensichtlich seinen Unmut. Ein anderslautendes Ergebnis der offiziellen Mitgliederbefragung hätte ohnehin keine bindende Wirkung entfaltet.

Nach Informationen des „Focus“ dankte der sächsische FDP-Generalsekretär Philipp Hartewig Zastrow für sein „einzigartiges Engagement“ und bedauerte dessen Entscheidung. Sie sei „politisch wie auch menschlich ein großer Verlust für die Freien Demokraten“. Zastrows „Entfremdung zur FDP“ sei „in den letzten Jahren“ allerdings „häufiger sichtbar geworden“.

Nach Einschätzung der „Bild“ kommt der Paukenschlag „für die sächsische FDP […] zur Unzeit“: Während die Partei Umfragen zufolge Werte „zwischen einem und drei Prozent“ erreiche, stehe am kommenden Samstag, 20. Januar, der Listenparteitag an. Zastrow habe offengelassen, ob er sich womöglich einer anderen Partei anschließen werde. Es gebe jedenfalls „eine Vielzahl von Gesprächen und Kontakten“ auf Landes- und Kommunalebene.

Zur Person: Holger Zastrow

Der gebürtige Dresdner Holger Zastrow, Jahrgang 1969, hatte laut „Focus“ in der Wendezeit „die Nachwuchsorganisation Jungliberale Aktion in Dresden“ mitgegründet. Von 1999 bis 2019 war er FDP-Landeschef in Sachsen und führte die Partei zurück in den Landtag. Zwischen 2004 und 2014 war er dort auch Fraktionsvorsitzender. 2011 bis 2013 arbeitete er auch als stellvertretender Bundesvorsitzender der Liberalen.

2014 und 2019 trat Zastrow als Spitzenkandidat seiner Partei bei der Landtagswahl im Freistaat an. In beiden Fällen verpasste die FDP den Wiedereinzug ins Parlament. Nach der Niederlage 2019 zog sich Zastrow aus den höheren Parteiämtern zurück. Weil er das Berufspolitikertum ablehnt, verzichtete er 2009 auf einen Ministerposten in der schwarz-gelben Landesregierung Sachsens (Kabinett Stanislaw Tillich II).

(Mit Informationen aus Agenturen)



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