Sergei und der Wolf

Prokofjew und das Abenteuer der Musik in Zeiten des Umbruchs: In den Mühlen von Stalin.
Titelbild
Ein Fagott, der große Bruder der Oboe, spielt in „Peter und der Wolf“ eine tragende Rolle.Foto: iStock
Von 5. März 2023

Vor 70 Jahren, am 5. März 1953, starb einer der berühmtesten russischen Komponisten seiner Zeit – doch kaum jemand nahm Notiz davon. Die Meldung vom Tod des kommunistischen Diktators Josef Stalin am selben Tag übertönte jede andere Nachricht.

In der Sowjetunion, ganz besonders in Moskau, herrscht Ausnahmezustand. Tagelang. So kommt es, dass für die Beerdigung von Sergei Prokofjew nicht einmal Blumenschmuck organisiert werden kann. Nur eine kleine Schar von Trauernden gibt dem Künstler im Moskauer Nowodewitschi-Ehrenfriedhof das letzte Geleit.

Vom Landgut nach Sankt Petersburg

Fast 62 Jahre zuvor, am 23. April 1891, erblickte Sergei Sergejewitsch Prokofjew auf einem Landgut in der Nähe von Donezk im russischen Zarenreich das Licht der Welt. Der Vater, ein Agraringenieur, die Mutter, musisch begabte Tochter einer Leibeigenenfamilie, erkennen das Talent ihres Sohnes früh. Maria Grigorievena Prokofjewa unterrichtet den Vierjährigen im Klavierspiel und notiert Jahre später in ihren Erinnerungen über diese Zeit: „Immer setzte er mich durch seine Fähigkeiten in Erstaunen und meine Hauptsorge war, ihn nicht die Liebe zur Musik verlieren zu lassen.“

Das erste eigene Klavierstück des fünfjährigen Sergei schreibt sie für ihn nieder. Schon bald darauf notiert er seine Kompositionen selbst. Um die Begabung Sergeis weiter zu fördern, organisiert die Mutter professionellen Unterricht beim Pianisten und Komponisten Reinhold Moritzewitsch Glière, der zwei Sommer auf dem kleinen Gut der Prokofjews auf dem Land verbringt.

1904 stellt die Mutter ihren 13-jährigen Sohn schließlich dem Komponisten und Professor des Petersburger Konservatoriums, Alexander Glazunov vor, der vom Talent des Jungen begeistert ist und zum sofortigen Beginn des Musikstudiums rät.

Wilde Harmonik und klassische Klänge

Zehn Jahre wird Sergei an der berühmten Petersburger Talentschmiede verbringen, Komposition, Orchestration, Klavier und Dirigieren studieren und bereits während dieser Zeit zum gefeierten Klaviervirtuosen und zum vielversprechenden, aufsteigenden Stern der progressiven Petersburger Musikwelt avancieren.

Nicht zum ungeteilten Vergnügen des Publikums, das die kompositorischen Experimente seines zweiten Klavierkonzerts bei der Uraufführung im Jahr 1913 mit Rufen wie „Zur Hölle mit dieser futuristischen Musik“ quittiert. Doch Prokofjew kann auch ganz anders.

In erklärender Betrachtung seines kompositorischen Werkes wird er selbst später von vier stilistischen Grundlinien sprechen. So wechseln sich moderne, motorische, klassische und lyrische Stilelemente in den verschiedenen Phasen seines Schaffens ab. Gewagte Harmonik und Dissonanzen, wilde, ungestüme, mitreißende Rhythmik, sanfte, melancholisch poetische Passagen und das bewusste Aufgreifen traditioneller Tänze und klassischer Leitmotive durchziehen sein Werk.

Stürmisch und drängend sind die meisten Werke aus der Petersburger Zeit und in den Jahren der ersten großen Erfolge, die er als Pianist und Interpret seiner eigenen Werke in ganz Russland feiert. Doch auch die Arbeit an der berühmten „Symphonie classique“ von 1916 – bis heute ein viel geliebter Klassiker – in dem er den Stil Joseph Haydns kongenial aufgreift und weiterentwickelt, fasziniert den unermüdlich komponierenden Prokofjew.

Radikale Umwälzungen

Die Oktoberrevolution von 1917 setzt all dem ein jähes Ende. 
Prokofjew ist gerade 26 Jahre jung und völlig unvorbereitet auf den Sturz des Zaren und die radikalen, historischen Ereignisse. „Ich hatte nicht die leiseste Ahnung von dem Zweck und der Bedeutung der Oktoberrevolution“, schreibt er.

Prokofjew zieht es fort aus Russland, in die Vereinigten Staaten. Dort knüpft er 1918 an seine russischen Erfolge an, erhält Kompositionsaufträge und gibt fulminante Soloklavierabende, unter anderem auch in der berühmten New Yorker Carnegie Hall. Und dort begegnet er seiner späteren Frau, der gerade 21-jährigen Opernsängerin Carolina Codina.

Nur wenige Jahre später verlässt sie für ihn ihre Heimat New York und folgt ihm nach Europa. Sergei und Lina heiraten und werden bald darauf Eltern. Der Lebensmittelpunkt der jungen Familie ist Paris, auch Deutschland, Großbritannien und die Vereinigten Staaten steuern die Prokofjews immer wieder an. 
Opern, Symphonien, Klavierkonzerte und Sonaten, Kammer- und Ballettmusik entstehen in schneller Folge.

1927, neun Jahre nach Prokofjews Abreise aus Russland, beginnen sich jedoch die Kontakte in die ehemalige Heimat wiederzubeleben. Die sowjetischen Kulturbehörden laden ihn zu einer großen Konzerttournee ein, die er mit Bedenken antritt, vom freundlichen Empfang und begeisterten Reaktionen aber positiv überrascht wird. Bald folgen weitere, erfolgreiche Reisen durch Russland und erste große Auftragsarbeiten für sowjetische Filmproduktionen.

Rückkehr in eine veränderte Heimat

Der Bann ist gebrochen. Im Mai 1936 fällt schließlich die endgültige Entscheidung: 
„Ich muss zurück“, schreibt er, „(…) ich muss wieder wirkliche Winter sehen und den Frühling, der ausbricht von einem Augenblick zum anderen. Ich muss die russische Sprache in meinem Ohr widerhallen hören, ich muss mit den Leuten reden, die (…) mir etwas zurückgeben, was ich hier so vermisse: ihre Lieder, meine Lieder.“

Mit seiner Frau Lina und den beiden gemeinsamen Söhnen zieht der Komponist nach Moskau – auf dem Höhepunkt der stalinistischen Willkürherrschaft. Und doch scheint Normalität und unbehelligtes Arbeiten zunächst möglich. 
Mit den beiden Söhnen besucht Prokofjew das Moskauer Theater für Kinder und die Idee entwickelt sich, selbst eine Kindergeschichte zu schreiben und zu vertonen.
 Das wohl bekannteste und prägnanteste aller Musikmärchen der Moderne, Peter und der Wolf, entsteht.

Die Geschichte eines kleinen, russischen Jungen, der durch Geschicklichkeit und List versucht seine Freunde, den Vogel und die Ente, vor dem heranschleichenden Wolf zu retten, ist in wunderbar poetische Leitmotive gefasst. Einzelne Instrumente charakterisieren in grandioser Melodieführung die handelnden Figuren, eine Stimme erzählt von den spannungsgeladenen Ereignissen.

Meinte Prokofjew mit dem Wolf möglicherweise den bedrohlichen, kommunistischen Apparat, der zuerst im Verborgenen, dann jedoch plötzlich und unvermittelt, offen und aggressiv attackiert?

Innere Immigration

Er ist produktiver denn je – und doch berichten Mitreisende seiner letzten Reise in die Vereinigten Staaten im Jahr 1938: „Zwar wollte er kein Bedauern über die Veränderungen in seinem Leben äußern, aber es sah ganz danach aus, als hätte er Angst, offen zu reden.“

Nach seiner Rückkehr in die UdSSR stürzt er sich noch mehr in seine Arbeit. „Jetzt heißt es arbeiten. Nur arbeiten! Das ist die Rettung“ schreibt er. 1941 verlässt Prokofjew seine Frau Lina und seine heranwachsenden Söhne, die Ehe wird von den Behörden als ungültig erklärt, da sie im Ausland geschlossen wurde. Weitere sieben Jahre später wird Lina als ausländische Spionin eingestuft und zu 30 Jahren Lagerhaft in Sibirien verurteilt.

Vom Tod Sergeis erfährt sie im Gulag erst Monate nach dem Begräbnis. Es dauert noch drei weitere Jahre, bis politisches Tauwetter nach Stalins Tod zu ihrer Entlassung führt. Trotz aller Enttäuschungen und Leiden gründet sie nach ihrer Ausreise in den Westen im Jahr 1983 in London die Sergei Prokofjew-Stiftung.

Dreißig Jahre zuvor steht als einer der wenigen Trauergäste der Komponist Dimitri Schostakowitsch am Grab Prokofjews. Inmitten allgegenwärtiger staatlicher Repressalien und Bedrohungen hatte er nur ein Jahr zuvor an ihn geschrieben: „Ich wünschte, Du hättest noch hundert Jahre mehr zu leben und zu komponieren. Solche Werke wie die 7. Symphonie machen es so viel einfacher und freudvoller zu leben.“



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