Antikriegstag am 1. September – Brauchen wir ihn? Positionen im Interview

Der Antikriegstag wurde vor 50 Jahren beim DGB-Kongress beschlossen. Der 1. September sollte von da an von den Gewerkschaften als Tag des Bekenntnisses für den Frieden und gegen den Krieg begannen werden. Im gemensamen Interview Heiko Glawe vom DGB regional Berlin und die Journalistin Renate Lilge-Stodieck.
Titelbild
Heiko Glawe vom DGB, die Autorin Jacqueline Roussety und die Journalistin Renate Lilge-StodieckFoto: Roussety für Epoch Times
Von 31. August 2016

Am 1. September wird der „Antikriegstag“ begangen und läutet damit für die nächsten Monate die Gedenktage ein, die an die deutsche Geschichte in ihrer dunkelsten Zeit erinnern. Der Antikriegstag wurde vor 50 Jahren beim DGB-Kongress beschlossen. Der 1. September sollte von da an von den Gewerkschaften als Tag des Bekenntnisses für den Frieden und gegen den Krieg begannen werden.

Am 1. September 1939 begann um 4.45 Uhr mit dem Beschuss der vor Danzig gelegenen Halbinsel vom deutschen Schiff „Schleswig Holstein“ aus der Zweite Weltkrieg. Nach sieben Tagen konnten die Verteidiger dem Angriff nicht mehr standhalten.

Dieser Kriegsausbruch endete mit mehr als 60 Millionen Todesopfern. In vielen Geschichtsbüchern, wissenschaftlichen Beiträgen und Vorträgen wirkt diese Zahl oft kalt und sachlich, baut eine Mauer auf, hinter der sich gut Versteck spielen lässt. Eine Mauer, hinter die man sich oft nicht zu blicken traut. Aber wenn man überlegt, dass hinter jeder einzelnen Zahl ein Mensch, eine Familie, unendlich viel Trauer und Schmerz steht, verwandelt sich die Zahl 60 Millionen in etwas Unbegreifliches, hinterlässt ein Vakuum.

Natürlich stellt sich unweigerlich folgende Frage: haben wir wirklich aus der Geschichte gelernt? Was bewirkt so ein Gedenktag überhaupt?

Rechtspopulistische Stimmen sind in unserem Land laut und aktiv geworden. Die AFD hat zweistellige Zahlen errungen, ihr Parteiprogramm weist viele rechte Tendenzen auf.

Epoch Times sprach mit Renate Lilge-Stodieck und Heiko Glawe. Beide beschäftigen sich seit Jahren  politisch und persönlich mit dem Thema „Deutsche Geschichte“.

Renate Lilge-Stodieck wurde in die Kriegswirren hineingeboren und hat sich Zeit ihres Lebens mit der deutschen Geschichte auseinandergesetzt. Sie arbeitet als freie Journalistin, unter anderem für das internationale Epoch Times Magazin.

Heiko Glawe ist Politologe und regional Geschäftsführer des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Berlin. Er hat sich ganz besonders stark gemacht für diesen Antikriegstag und kann uns aus politischer Sicht berichten, inwieweit diese Gedenktage nach wie vor wichtig sind.

ET: Frau Lilge-Stodieck, Sie sind in die Kriegswirren/Kriegsjahre hineingeboren und in den sogenannten Aufbaujahren der BRD aufgewachsen. Wieviel Vakuum haben Sie in den Vierziger und fünfziger Jahren gespürt?

Renate Lilge-Stodieck: Aus heutiger Sicht mag das seltsam klingen, aber ich habe meine Kinder- und Jugendzeit als normal erlebt. Denn es war eben normal in der Schule zu sitzen und bei jedem zweiten Kind galt der Vater als vermisst oder war im Krieg umgekommen. Ich hatte Glück, dass mein Vater noch lebte. Er hat aber im Gegensatz zu vielen anderen Eltern sehr bewusst vom Krieg erzählt und so wurde mir irgendwann klar, dass Kriege diese Lücken und fürchterlichen Erinnerungen mit sich bringen. Aber während der Schulzeit wurde diese Zeit so gut wie ausgeblendet. Erst in der 11. Klasse gab es so eine Art zusammengebastelte Information zum Thema „Nationalsozialismus“. Das war allerdings nicht sonderlich informativ.

ET: Ab wann begannen Sie sich politisch mit dieser Zeit auseinander zu setzen und warum?

Renate Lilge-Stodieck: Der Aufbruch der 68er und siebziger Jahre mit dem Slogan „Mehr Demokratie wagen“ war auf jeden Fall die Zeit, in der es mir sehr darum ging, mich politisch aktiv einzubringen. Doch mir wurde sehr früh bewusst, dass auch innerhalb der Parteien vieles intrigant und nicht gerade friedfertig vor sich geht. Macht und Unterdrückung sind in jeder Politik in irgendeiner Art und Weise vorhanden.

Von Antikriegstagen zu Friedenstagen

ET: Ein Gedenktag wie der 1. September als „Antikriegstag“ deklariert – nach Ihren eigenen Lebenserfahrungen – ist so ein Gedenktag gerade in dieser Zeit mehr als nötig? Und wenn ja, warum? Vor allen Dingen, für wen?

Renate Lilge-Stodieck: Ich bin der Meinung, dass man nicht nur Gedenktage einführen sollte, sondern auch Friedenstage. Denn nichts ist wichtiger, als den Frieden zu wahren. Natürlich sind Gedenktage immer nötig, denn zu jeder Zeit wirkt die Kriegsmaschinerie direkt oder indirekt auf unsere Wirtschaft und damit auch auf unsere Gesellschaft ein. Und dem etwas entgegenzusetzen, das ist das, was ich unter einer „freien Demokratie“ verstehe. Um Krieg entgegenzuwirken. Warum soll ich eine Waffe in die Hand nehmen um einen Menschen, den ich nicht kenne, zu töten? Oder andersherum gefragt: warum soll ich von jemanden getötet werden, der mich nicht kennt? Das ist doch ein Irrsinn!

ET: Herr Glawe, Sie gehören der Generation der Kriegsenkel an. Was hat in Ihrem Leben Sie dazu bewogen, sich mit dieser Zeit auseinanderzusetzen? Politisch aber auch persönlich?

Heiko Glawe: Ich denke mal, das meine Geburtsstadt mich geprägt hat. Ich bin in Salzgitter geboren und aufgewachsen und es ist ja bekannt, dass am 1.4.1942 diese Stadt von den Nazis überhaupt erst gegründet wurde, weil hier ein großes Erzgebiet vorhanden war. Und wofür brauchte man Erz? Um die Rüstungsindustrie vorwärts zu peitschen. Von alldem habe ich lange Zeit nichts erfahren. Diese Stadtgeschichte wurde natürlich totgeschwiegen. Dass es sogar auf dem Firmengelände ein KZ gab, auch das habe ich alles erst sehr viel später erfahren. Und dass Zwangsarbeiter – vor allen Dingen politische Zwangsarbeiter sich dort zu Tode schuften mussten – all das habe ich sehr viel später erfahren. Diese Stadtgeschichte hat mich bestimmt geprägt, dass ich mich als Politologe verstärkt mit diesem Thema auseinandersetzen wollte. Und so bin ich auch zur Gewerkschaft gekommen. Besonders in der Gewerkschaft spielt Auseinandersetzung immer eine große Rolle. Gewerkschafter waren nicht nur Opfer, sondern eben auch Verfolgte des Krieges.

Ein „Wir“ oder „Miteinander“ ist zu selten

ET: Herr Glawe, in Ihrer Arbeit als Politologe, wenn man so die letzten zehn Jahre Revue passieren lässt, es gibt so viel Aufklärung, dermaßen viele Recherchen und man sagt, dass Deutschland eines der Länder auf der Erde ist, das sich am meisten mit seiner Vergangenheit auseinandergesetzt hat. Und nichtsdestotrotz: besonders in den letzten fünf Jahren gibt es einen enormen Rechtsruck. Wie konnte das so weit kommen? Trotz aller Aufklärung und Gedenktage.

Heiko Glawe: Angst resultiert aus einer Unsicherheit heraus. Und momentan ist die Angst der Mittelschicht sehr hoch. Vor dem Absturz. Das, was man sich vielleicht mühevoll im Leben erarbeitet hat, zu verlieren. Dass diese Angst unbegründet ist, das muss man den Menschen aber erst immer bewusst machen. Denn wir leben nun mal in einer Gesellschaft, in der der Slogan „Ich zuerst!“ mehr als prägend geworden ist. Ein „Wir“ oder „Miteinander“ ist in dieser lieblosen Gesellschaft selten anzutreffen.

ET: Welchen Stellenwert hat die Gewerkschaft in politisch doch so unruhigen und instabilen Zeiten? Hat die Gewerkschaft überhaupt eine Möglichkeit an die Menschen ranzukommen, die vielleicht aufgeklärt werden müssten? Was konkret unternehmen Sie da? Welche Aktionen starten Sie?

Heiko Glawe: Wir unternehmen schon sehr lange etwas dafür, oder besser gesagt: dagegen. Denn die Gewerkschafter haben in den großen Betrieben schon in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahre mitbekommen, dass viele Gastarbeiter in irgendeiner Form integriert werden mussten. Von hier resultiert auch noch die Kampagne: Die gelbe Hand. „Mach meinen Kumpel nicht an!“ Hier mussten wir der Belegschaft wirklich nahelegen, dass Gastarbeiter nicht Fremde sind, und hier wurde eine enorme Aufklärungsarbeit geleistet. Die Fremden als gleichwertige Kumpel anzuerkennen war unsere stärkste Aufgabe zu diesem Thema. Zurzeit ist es wieder hochaktuell. Denn natürlich sind auch in unseren Betrieben, die wir betreuen, rechte Stimmen sehr laut geworden. Und es geht darum, Menschen aufzuklären und einfach zu zeigen, dass jeder, der bei uns arbeitet, seine Rechte und natürlich auch seine Pflichten hat.

Wir wissen in Deutschland, dass Krieg keine Lösung ist

ET: Frau Lilge-Stodieck, für ein internationales Magazin wie das der Epoch Times zu arbeiten, da bekommen Sie weltweit alle politischen Themen mit. Welche Parallelen weisen sich Ihrer Meinung nach zurzeit überall auf? Wir gedenken des 1. Septembers 1939 und damit der fürchterlichen Folgen, aber aktuell wüten überall Kriege, überall ist ein extremer Rechtsruck zu spüren?

Renate Lilge-Stodieck: Was ich beobachte ist, dass es kaum noch ein menschliches Miteinander gibt. Dass ist meiner Meinung nach das allgemeine Problem, dass wir untereinander nicht mehr miteinander kommunizieren. Und es kommt doch auf den Einzelnen an. Man sollte den Kriegstreibern nicht immer anheimfallen. Das muss doch endlich aus unseren Köpfen raus. Jeder muss eigentlich seinen inneren Frieden finden. Nur so wären wir überhaupt in der Lage, weltweit den Frieden zu gewinnen. Aber eines ist sicher, wir durchblicken oft nicht die wirtschaftlichen Machenschaften und militärische Macht, in die jede Nation verwickelt ist. Denn hier fließt eine Menge Geld und da lässt sich doch ganz leicht die Frage beantworten: ab wann ist ein Mensch erpressbar? Ich denke aber, dass wir in Deutschland eigentlich wissen, dass Krieg keine Lösung ist. Der soziale Frieden ist doch eigentlich das, wofür wir eintreten müssten. Aber es fehlt uns der Zusammenhalt in der Gesellschaft.

ET: Herr Glawe, die Flüchtlingsdebatte ist mittlerweile Teil der alltäglichen Politik geworden. Was glauben Sie, inwieweit stimmt der Ausdruck der französischen Politikerin Martine Aubry, dass Angela Merkel mit ihrer Flüchtlingspolitik die „Ehre Europas“ gerettet hat? Denn müssen wir uns nicht die Frage stellen, wenn wir nicht noch einmal die Zeit einer Diktatur erleben wollen, wie zum Beispiel in Ländern wie China oder in vielen arabischen Ländern, gehört es nicht zur freien Demokratie und dem humanistischen und christlichen Glauben, den Menschen zu helfen, die von Krieg und Leid betroffen sind?

Heiko Glawe: Ich glaube auf jeden Fall, dass der Grundgedanke richtig war und ist. Auch wenn wir Gewerkschaften vielleicht nicht sonderlich CDU-nah sind, so sind wir doch auf die Straße gegangen und haben die Gegen-Demo veranstaltet als es hieß: „Merkel muss weg“. Denn wir sind der Meinung, Europa kann sich nicht verschließen für das, was auf der anderen Seite der Welt geschieht. Wir müssen helfen, dass der Krieg aufhört. Und dort, wo Menschen in Not sind, dass es selbstverständlich unsere Aufgabe ist, zu helfen. Nicht nur als Gewerkschafter, sondern eigentlich in erster Linie als Mensch.

ET: Frau Lilge-Stodieck, im Moment blickt alles nach Amerika. Was wird sich an der politischen Lage ändern, wenn Donald Trump Präsident wird? Ein Mensch, der eher den Krieg als den Frieden propagiert? Der das nationale Bewusstsein vor multikulturelle Vielfalt und Toleranz stellt?

Renate Lilge-Stodieck: Ich denke, wir sollten erst einmal abwarten. Denn es wird so viel schon propagiert, und wir wissen doch alle, dass von den meisten Wahlversprechen, ob sie nun negativ oder positiv sind, doch sehr viel nicht umgesetzt wird oder werden kann. Das hat ganz oft mit anderen Machenschaften zu tun, da blicken wir doch hier in Deutschland nicht wirklich durch. Ich denke mal, man sollte Amerika den amerikanischen Wählern überlassen. Wir haben von hier aus sowieso den geringsten Einfluss.

Heiko Glawe: Ich sehe das ein bisschen anders. Donald Trump vergiftet meines Erachtens das Klima und er fördert das Miteinander nicht, sondern er bringt die Gesellschaften gegeneinander auf. Das wird Spuren hinterlassen, wenn er dann Präsident werden sollte. Er ist definitiv nicht Teil einer Lösung. Ich glaube nicht, dass er für den Frieden wirklich den Fortschritt bringen wird, den Amerika definitiv mit beizutragen hat. Ich habe das Gefühl, bei Trump ist immer nur viel Provokation. Was er letztendlich dann als Präsident wirklich durchsetzen wird, das ist im Moment nicht zu erkennen.

Wie geht es weiter und wer ist für die Zukunft zuständig?

ET: Herr Glawe, wie sieht vielleicht in 25 Jahren der 1. September als Gedenktag aus?

Heiko Glawe: Es wird wohl dabei bleiben, dass man immer wieder aktuelle Themen aufgreifen muss. Dass man miteinander reden muss. Das zeigen auch die Veranstaltungen im DGB-Haus. Wir weisen immer auf aktuelle Themen hin, die die Leute zum Nachdenken anregen, aber auch um miteinander zu diskutieren. Ich stelle fest, dass die Gedenktage auch für die junge Generation wichtig sind. Damit sie aus den Fehlern der Geschichte lernen.

Renate Lilge-Stodieck: Aber wir sollten aufhören, immer der Jugend die Verantwortung zu übergeben. Das war schon zu meiner Zeit so. „Ihr werdet es besser machen.“ Was soll das eigentlich bedeuten? Die Jugend soll die Fehler der Älteren ausbügeln? Das kann doch nicht die Antwort sein. Wir müssen es jetzt, in diesem Moment alle zusammen besser machen. Und nicht immer Kindern und Jugendlichen diese Bürde aufhalsen für eine angeblich bessere Zukunft. Die Gegenwart zählt. Das „Jetzt“. Und da sind wir alle gefragt.

ET: Vielen Dank für das spannende Interview!

VERANSTALTUNGSHINWEIS:

BERLIN – 1. SEPTEMBER – ANTIKRIEGSTAG

Lesung mit Jacqueline Roussety – anschließend Diskussion

DGB Gewerkschaftshaus am Wittenbergplatz

Keithstraße 1-3, 10787 Berlin, Wilhelm-Leuschner-Saal

Beginn 17:30 Uhr – Eintritt frei

„Wenn das der Führer sähe…Von der Hitler-Jugend in Filbingers

Fänge – ein deutsch-schlesisches Kriegsdrama“ (Acabus-

Verlag) von Jacqueline Roussety.

 



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