Entschwunden – Von Emanuel Geibel
Aus der Reihe Epoch Times Poesie - Gedichte und Poesie für Liebhaber
Entschwunden
Einstmals hab ich ein Lied gewußt,
Sang ich’s, da ich ein Kind noch war,
Aber mir ist’s entschwunden.
Lieblich schwebte die Weise hin,
weich wie Schwanengefieder;
Ach, wohl such‘ ich durch Feld und Wald,
Finde nimmer sie wieder.
Manchmal mein ich, es wogt ihr Laut
über der Flur in den Winden;
Aber es ist verhallt im Nu,
Will ich ihn greifen und binden.
Oft auch, wenn ich bei Nacht entschlief,
Streift urplötzlich und leise
über mein Herz mit Traumeshand
Die verlorene Weise.
Aber fahr‘ ich vom Kissen auf,
Kann ich mich nimmer besinnen;
Nur vom Auge noch fühl ich sacht
Brennende Tränen rinnen.
Und doch mein ich: fänd ich den Klang,
All die heimlichen Schmerzen
Könnt, ich wieder, wie einst als Kind,
Mir wegsingen vom Herzen.
Emanuel Geibel (1815 – 1884)
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