Rettende Insel – Von Joachim Ringelnatz

Aus der Reihe Epoch Times Poesie - Gedichte und Poesie für Liebhaber
Titelbild
Und wir trinken. Es gesellen andre sich dazu. Die Wellen glätten sich. Der Haß zerstiebt. Bis zuletzt in süßer Ruhe niemand noch was in die Schuhe andrer schiebt.Foto: iStock

Rettende Insel

Wenn Parteien sich und Massen

Sichtbar und geräuschvoll hassen
Klingt das mir wie Meeresrauschen.
Und dann mag ich henkelltrocken
Still auf einer Insel hocken,
Die mich zusehn läßt und lauschen.

Nicht, daß ich dann etwas schürfe
Oder was dazwischen würfe
Oder schlichten wollte, nein,
Nein, ich weiß, das muß so sein.
Und ich dehne mich und schlürfe
Eingefangnen Sonnenschein.

Wechselnd laut und wieder leise
Rauscht das Meer in weitem Kreise
Mir vertraute Melodie.
Wo blind oder falsch gestempelt
Mißklang sich an Mißklang rempelt,
Windelt neue Harmonie.

Und dann schwimmt – fast ist es schade –
Noch ein Mensch an mein Gestade,
Sucht an meiner Bulle halt.
Aus ist die Robinsonade,
Denn nach Insulanersitte
Sag ich unwillkürlich: „Bitte!“
Und ein zweiter Pfropfen knallt.

Und wir trinken. Es gesellen
Andre sich dazu. Die Wellen
Glätten sich. Der Haß zerstiebt.
Bis zuletzt in süßer Ruhe
Niemand noch was in die Schuhe
Andrer schiebt,
Und sich alles gegenseitig
Eingehenkellt ganz unstreitig
Duldet, gern hat oder liebt.

Joachim Ringelnatz  (1883 – 1934)

Das Gedicht entstand 1928



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