Wer ist da auf der Straße?

Die Heinrich-Böll-Stiftung beauftragte Soziologen, die Bewegung „Querdenken“ zu erforschen. Hier die aktuellen Ergebnisse.
Titelbild
Während einer Demonstration gegen Corona-Maßnahmen in Stuttgart am 17. Oktober 2020.Foto: Thomas Lohnes/Getty Images
Von 1. Dezember 2021

In den Auflagen starken Medien heißt es oft, dass Rechtsextremismus ein verbreitetes Phänomen in der Szene der Querdenker ist. „Ein neuer Extremismus?“, fragte etwa tagesschau.de Ende November vergangenen Jahres.

Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) sagte gegenüber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, in der Querdenker-Bewegung sammelten sich „Akteure aus dem Milieu der Reichsbürger und Selbstverwalter“, die Demonstranten benutzten rechtsextremistische Narrative. Im März bezeichnete die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ in ihrer Reportage Baden-Württemberg als „Land der Querdenker, Impfgegner und Globuli-Anhänger“.

Erst vor wenigen Wochen ließ Facebook in einer koordinierten Löschaktion knapp 150 Konten auf den eigenen Plattformen sperren, die der Zuckerberg-Konzern als „Querdenker“ identifiziert hatte. In einem Statement hieß es, dies sei die weltweit erste gezielte Aktion, die sich gegen eine Gruppierung richte, die eine „koordinierte Schädigung der Gesellschaft“ hervorrufe. Worin genau diese Beschädigung besteht, definierte allein Facebook. Die Querdenker würden auf jeden Fall unter diese Definition fallen, hieß es.

Das empirische soziologische Forschungsprojekt „Politische Soziologie der Corona-Proteste“ an der Universität Basel kam im Dezember vergangenen Jahres zu einem anderen Ergebnis: „Die Kritiker der Corona-Maßnahmen sind in sich heterogen, aber nach rechts offen und vom politischen System stark entfremdet.“

Wissenschaftler um die Soziologen Oliver Nachtwey und Nadine Frei ließen 1.150 Mitglieder von Telegram-Gruppen einen Fragebogen ausfüllen. Feldbefragungen wurden durchgeführt, direkte Beobachtungen der Kundgebungen flossen ein. Die Bewegung der „Querdenker“ komme nicht einfach aus dem Nichts, so die Forscher damals. In den letzten Jahren habe es bereits eine Reihe von Bewegungen gegeben – linke wie rechte – die sich jenseits tradierter Formen der Repräsentation einstuften.

Die Forschung steht erst am Anfang

Nun haben Nachtwey und Frei mit ihrer Studie „Quellen des Querdenkertums – eine politische Soziologie der Corona-Proteste in Baden-Württemberg“ nachgelegt. Das Bundesland im Südwesten, allen voran die Region Stuttgart, gilt neben Sachsen als Hotspot der Protestbewegung.

Die zentralen Fragen der im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung Baden-Württemberg entstanden Untersuchung lauteten: Welche besonderen Merkmale weist die „Querdenken“-Bewegung in Baden-Württemberg auf – und: Warum ist die „Querdenken“-Bewegung in Baden-Württemberg so stark verwurzelt?

„Im Umgang mit diesen Protesten ist es aus unserer Sicht wichtig, die Kritiker der Corona-Maßnahmen nicht einfach zu pathologisieren. Das ist zwar verführerisch und entlastend, hilft aber nicht wirklich weiter“, schreiben die Autoren.

Bei der Vorstellung der Studienergebnisse am 22. November durch Nachtwey und Frei erklären die Soziologen, dass die „Querdenker“ in Baden-Württemberg mehrere Dinge vereint: Sie bestreiten zum einen die Gefährlichkeit des Virus und die der pandemischen Lage. Der Politik werfen sie absichtliche „Angstmacherei“ und „Hysterie“ vor, den Medien einseitige Berichterstattung und verzerrte Darstellung. Sie haben ein libertäres Freiheitsverständnis, das für Individualität, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung eintritt.

Quellen des „Querdenkertums“ in Baden-Württemberg sind vor allem zwei von den Soziologen als „Alternativmilieu“ und „anthroposophische Milieu“ benannte Gruppen. Menschen aus zwei weiteren Gruppen, dem „christlich-evangelikalen Milieu“ sowie dem „bürgerlichen Protestmilieu“ seien zwar auch zu sehen gewesen, allerdings in erheblich geringerem Maße.

Das „Alternativmilieu“ entstand in Folge der anti-autoritären Revolte der 1968er. Menschen dieser Gruppe schätzen selbstverwaltete Strukturen oft mehr als Institutionen und Autoritäten, sie wollen sich selbst verwirklichen, sorgen sich um ihren eigenen Körper und sind spirituell aktiv. Oft sind es Akademiker:Innen mit relativ hoher Qualifikation, hohem Sozialprestige und gutem Einkommen. 

Naturbezogen, für Selbstbestimmung, Individualität und Ganzheitlichkeit, Staatsskepsis – das anthroposophische Milieu mit seiner Nähe zu Rudolf Steiner ist die zweite große Quelle der „Querdenker“ in Baden-Württemberg. Es gebe in gewissem Maße eine „Wahlverwandtschaft von anthroposophischem Denkstil und Corona-Kritik“.

„Die Forschung zu diesen Protesten steht – nicht nur für uns – erst am Anfang“, bekennen die Studienautoren, „es bedarf noch weiterer Untersuchungen, um zu genaueren und empirisch belastbareren Erkenntnissen zu gelangen.“

Rund ein Drittel gab an, früher die Grünen gewählt zu haben

Überraschend für große Teile des Mainstreams dürfte sein, dass rund 30 Prozent der 1.150 Befragten angaben, früher auch die Grünen gewählt zu haben. Bei vielen Studienteilnehmern war das zuletzt bei der Bundestagswahl 2017 der Fall. Das alternative und anthroposophische Milieu habe bei der Entstehung der Grünen eine Rolle gespielt, so Nachtwey. Gerade im Südwesten Deutschlands seien die anthroposophische Bewegung sowie die langjährig verankerte Alternativszene starke Triebfedern für die Proteste von Querdenken.

Den Ergebnissen nach haben sich allerdings viele Teilnehmer der Bewegung nicht nur von den Grünen entfremdet, sondern allgemein von den Kerninstitutionen der liberalen Demokratie. Sie wählen heute die AfD oder gar nicht mehr. Nachtwey betrachtet dies als eine Bewegung von links nach rechts. Von linken Werten wie Solidarität und Gleichheit sei im Grunde nichts mehr übrig.

Nach Meinung der Soziologin Nadine Frei stellen sich die Querdenker als „kritische Experten und heroische Widerstandskämpfer“ dar. Sie verstünden sich als wahre Verteidiger von Demokratie und Freiheit und als Teil eines „Kerns der Eingeweihten“. Als solche meinten sie, über ein höheres Wissen zu verfügen und die wirklichen Beweggründe der staatlichen Maßnahmen zu kennen. „Auch gegen Stigmatisierung und Repression hielten sie an ihrer vermeintlichen Expertise fest“, so die promovierte Soziologin, die die Mehrheit der Teilnehmer der Mittelschicht zuordnet.

Studienleiter Nachtwey zeichnete auch das Bild einer „Bewegung der qualifizierten Mitte“, im Schnitt 47 Jahre alt. 31 Prozent der Befragten haben Abitur, 34 Prozent einen Studienabschluss. Überraschend: Der Anteil Selbstständiger ist deutlich höher als in der Gesamtbevölkerung. Querdenker sind für den Soziologen vor diesem Hintergrund eine „enorm widersprüchliche“ Bewegung. Charakteristisch für diese neue Bewegung sei auch eine starke Entfremdung von den Institutionen des politischen Systems, den etablierten Medien und den alten Volksparteien.

Überraschend: Die Querdenker in Baden-Württemberg ticken anders als im Osten dieser Republik. Dort ist der Anteil von AfD-Wählern viel höher als im Südwesten, wo es laut Studie doppelt so viele ehemalige Grünen- und Linke-Wähler unter den Protestlern als im Osten gibt. In Sachsen seien die Proteste stärker von der extremen Rechten geprägt und trügen deutlich weniger esoterische Züge.

Querdenker stellen staatliches Handeln infrage

„Natürlich bin ich mit dieser Bewegung persönlich nicht einverstanden“, bekannte der 1975 geborene Professor für Sozialstrukturanalyse Ende September gegenüber der in Wien erscheinenden linksliberalen Wochenzeitung „Falter“. „Aber es ergibt auch keinen Sinn, sie einfach nur als allgemein verrückt oder gefährlich zu etikettieren. Ich war auf der letzten größeren Demonstration in Berlin.“ Es sei eher das alte Anti-AKW-Milieu aus Deutschland gewesen.

„Sehr viele freundliche ältere Ehepaare mit ihren Kindern in Funktionskleidung, die gegen diese staatlichen Zumutungen demonstriert haben. Auch wenn es uns nicht passt, was die da betreiben, handelt es sich um eine Form der Gesellschaftskritik, die die Realität anders deutet.“

Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die „Querdenken“-Bewegung vor allem durch eine Entfremdung von Kerninstitutionen der heutigen BRD zu charakterisieren sei. Der parlamentarischen Politik und den Parteien, der Wissenschaft und den Medien – allen Institutionen schlage großes Misstrauen entgegen und allein die Gerichte und das Justizsystem genießen noch eine schmale Vertrauensbasis.

Nach Ansicht von Nachtwey stellen die Querdenker staatliches Handeln infrage, was in seinen Augen eigentlich die Aufgabe der Linken gewesen wäre. „Die macht das nicht mehr“, so der Baseler im Gespräch mit dem „Falter“, „die haben sich ja bei Merkel eingereiht. Ich ehrlicherweise auch: Ich war froh über die harten Pandemiemaßnahmen, ich hatte Sympathien für Zero Covid. Deswegen sehe ich diese Bewegung als einen Vorgeschmack auf die kommenden Klimakonflikte.“

Dieser Artikel erschien zuerst in der Epoch Times Wochenzeitung, Ausgabe Nr. 20, vom 27. November 2021.



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