Taoismus: Religion oder Wissenschaft?

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Ein Wushu-Meister beim Kung Fu-Training.Foto: iStock
Von 7. Juni 2022

Bruce Lee, der Filmstar und Kampfsportler aus Hongkong, prägte Ende der 1960er-Jahre in einem Fernsehinterview den Slogan „Be Water“. Dieser ikonische Slogan ist mehr als bloß eine Aussage von Lees Kung-Fu-Philosophie – er wurde bereits als Taktik verschiedener politischer Organisationen und Widerstandsbewegungen übernommen.

„Sei formlos, gestaltlos wie Wasser.“ Für diejenigen, die mit der alten chinesischen Philosophie vertraut sind, ist es klar, dass Lee die Wassermetapher einfach aus Lao Tses klassischem Text „Tao Te Ching“ übernommen hat.

Wenn eine der Lehren des Taoismus in den modernen Kampfsport übertragen werden kann, können wir uns weiter fragen: Wo steht die heutige Bedeutung des Taoismus?

Eines der Schlüsselkonzepte des Taoismus ist „Wu-Wei“ (wörtliche Bedeutung: Nichthandeln). Wir können es als „die Kunst der Gelassenheit“ übersetzen. Doch wie kann eine solch augenscheinlich „negative Einstellung“ für hochgefährliche Aktivitäten wie den Nahkampf nützlich sein?

Der schmerzhafte Prozess der Beherrschung des Geheimnisses der Gelassenheit ist in den verschiedenen Biografien Lees dokumentiert. Den Biografen zufolge sagte Yip Man, Lees Lehrer, seinem Schüler immer, er solle sich beim Kung-Fu-Training „entspannen“. Lee war damals jedoch ein junger Mann, der es eilig hatte und dessen einziges Ziel es war, jeden seiner Gegner zu besiegen. Mit einer solch aggressiven Einstellung fiel es ihm schwer zu verstehen, wie wichtig es ist,  selbst in einer extremen Situation, in der er angegriffen wurde, „entspannt“ zu bleiben.

„Als sich mein ausgeprägtes Selbstbewusstsein zu dem entwickelte, was die Psychologen als ‚double-bind‘ bezeichnen, kam mein Lehrer [Yip Man] wieder auf mich zu und sagte: ‚Loong [‚Drache‘, Lees chinesischer Name], bewahre dich, indem du den natürlichen Biegungen der Dinge folgst und dich nicht einmischst. Denke daran, dich nie gegen die Natur durchzusetzen; sei nie in frontaler Opposition zu irgendwelchen Problemen, sondern kontrolliere sie, indem du mit ihnen schwingst. Übe diese Woche nicht. Gehe nach Hause und denke darüber nach‘“, so Lee.

Die meisten Kommentatoren haben die Bedeutung des letzten Satzes von Meister Yip nicht verstanden: „Geh nach Hause und denke darüber nach.“ Mehr Übung bedeutet nicht mehr Intelligenz, Intelligenz wird durch „Nichthandeln“ gewonnen, denn mehr Handlung bedeutet Reizüberflutung. Reizüberflutung hemmt einen klaren Geist und führt zu „schlechtem Denken“. Nichthandeln oder Ruhe, ist das Tor zur Weisheit.

„Nachdem ich viele Stunden mit Meditieren und Üben verbracht hatte, gab ich auf und segelte allein in einer Dschunke. Auf dem Meer dachte ich an all mein früheres Training, wurde wütend auf mich selbst und schlug auf das Wasser! In diesem Moment kam mir plötzlich ein Gedanke: War nicht gerade dieses Wasser die Essenz des Kung-Fu? Hatte mir dieses Wasser nicht gerade eben das [Prinzip] des Kung-Fu vor Augen geführt? Ich schlug es, aber es wurde nicht verletzt. Wieder schlug ich mit aller Kraft zu, aber es wurde nicht verletzt! Dann versuchte ich, eine Handvoll davon zu ergreifen, aber das erwies sich als unmöglich. Dieses Wasser, die weichste Substanz der Welt, die in das kleinste Gefäß gefüllt werden konnte, schien schwach zu sein. In Wirklichkeit konnte es die härteste Substanz der Welt durchdringen. Das war’s! Ich wollte so sein wie Wasser.“

„Plötzlich flog ein Vogel vorbei und warf sein Spiegelbild auf das Wasser. In dem Moment, als ich mich von der Lektion des Wassers in den Bann ziehen ließ, offenbarte sich mir ein weiterer mystischer und versteckter Sinn: Sollten die Gedanken und Gefühle, die ich hatte, wenn ich einem Gegner gegenüberstand, nicht wie das Spiegelbild des fliegenden Vogels im Wasser vorbeiziehen? Dies war genau das, was Professor Yip mit ‚losgelöst sein‘ meinte – nicht ohne Emotionen oder Gefühle zu sein, sondern jemand zu sein, an dem die Gefühle nicht kleben oder blockiert sind. Um mich selbst zu kontrollieren, muss ich mich also zunächst selbst akzeptieren, indem ich mich mit und nicht gegen meine Natur stelle“, fuhr Lee fort.

Plötzliche Erleuchtung eines Zen-Meisters?

Möglicherweise hat Lee die ganze Geschichte dramatisiert, um uns zu beeindrucken. Es klingt wirklich wie die plötzliche Erleuchtung eines Zen-Meisters. Vielleicht war der Vorfall aber auch ganz banal: Lee las eines der Kapitel im „Tao Te Ching“ und entdeckte, dass die chinesischen Kampfkünste im Gegensatz zum westlichen Boxen immer eine philosophische Grundlage in sich tragen.

Der Beweis für diese Erkenntnis ist, dass es bis heute typisch ist, dass ein taoistischer oder buddhistischer Mönch zugleich auch Kung-Fu praktiziert. Das ist in den westlichen Religionen nicht der Fall. Ein katholischer Geistlicher mag Boxen als Freizeitbeschäftigung betreiben, jedoch hat das nichts mit seinem religiösen Glauben zu tun.

Der Taoismus ist nicht nur eine Religion, weil er versucht, die Mechanismen des menschlichen Körpers zu verstehen, wie Atmung, Selbstheilung und Langlebigkeit. Der verstorbene britische Gelehrte Joseph Needham hat sich jahrzehntelang bemüht, dieses wissenschaftliche Projekt für westliche Leser zugänglich zu machen.

In den chinesischsprachigen Gemeinschaften haben wir mehr Glück, denn die Praxis von Qigong und Meditation ist keine akademische Tätigkeit, sondern hat eine lange Tradition im einfachen Volk. Qigong-Praktizierende haben erkannt, dass schlechte Atemgewohnheiten zu einer schlechten Gesundheit führen und unseren Herzschlag und Blutdruck beeinträchtigen. Außerdem haben sie entdeckt, dass der Körper über Selbstheilungskräfte verfügt. Viele Menschen, die an chronischen Krankheiten litten, wurden durch das beharrliche Üben von Qigong geheilt.

Wenn wir auf den Rat von Yip Man an den jungen Bruce Lee zurückkommen, „losgelöst“ zu sein, können wir hinzufügen, dass es sich dabei nicht nur um eine „Einstellung“ handelt, sondern vielmehr um eine wissenschaftliche Atemtechnik. Wir können Ruhe nicht einfach dadurch erreichen, dass wir uns „ruhig“ verhalten, wir müssen die Mechanik des Körpers kennen, weil er unseren Geist kontrolliert. Indem wir unsere Atmung und unseren Herzschlag kontrollieren, werden wir Herr über unseren Geist. Und es gibt unzählige alte taoistische Texte, in denen die entsprechenden Methoden zum Erreichen dieses Ziels beschrieben werden. Es ist schade, dass sie erst in den letzten Jahren von westlichen Medizinern und Psychologen ernst genommen werden.

Viele Religionswissenschaftler haben den Taoismus als „mystisch“ bezeichnet. Dies ist ein Missverständnis. Der Taoismus ist in der Tat eine der „wissenschaftlichsten“ Religionen der Welt, und wir können mehr Verständnis für uns selbst und das Universum gewinnen, wenn wir ihn ernsthaft studieren.

Eddie Leung ist ein altgedienter Journalist aus Hongkong, der seit mehr als drei Jahrzehnten für verschiedene Nachrichtenmedien arbeitet. Seine Hauptinteressen sind Hongkong, internationale Politik, Filme und chinesisches Kung Fu.

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.


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