„Wir schaffen es doch nicht“: Kollektives Rückrudern von Politik und Medien in der Migrationspolitik

Aktuell ist ein kollektives Aufstöhnen vernehmbar, was die Migrationspolitik der Bundesregierung angeht. Parteiübergreifend und in den Medien scheint sich der Tenor durchgesetzt zu haben, dass es so nicht weitergehen kann. Eine Analyse.
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Migranten warten am 17. September 2023 auf der italienischen Insel Lampedusa auf ihre Registrierungspapiere.Foto: ZAKARIA ABDELKAFI/AFP via Getty Images
Von 22. September 2023

Zunächst zur Frage, warum die Stimmung zur Migrationspolitik scheinbar dreht. Auffällig sind drei Ereignisse, die hier eine Rolle spielen könnten:

Da sind die Bilder von Lampedusa, der Sizilien vorgelagerten italienischen Insel, die binnen weniger Stunden von tausenden Migranten in weit mehr als einhundert Boote erreicht wurde. Möglicherweise waren diese Bilder bis ins 2.500 Kilometer entfernte Deutschland ein Weckruf, wenn man von der Annahme ausgeht, dass ein größerer Teil dieser Menschen das Ziel hat, in Deutschland einen Asylantrag zu stellen.

Ein weiterer Faktor für den Stimmungswandel könnten die im Oktober anstehenden Landtagswahlen in Bayern und Hessen sein. Sollte die Sorge vor einem Zuviel an Migration für die Wähler eine Rolle spielen, dann wäre das eine Erklärung für die kritische Thematisierung quer durch alle Partien. Der Merkur beispielsweise titelte vor einer Woche: „Söder geht vor Bayern-Wahl beim Thema Migration in die Offensive“.

Und im Interview mit „BR24“ forderte der amtierende bayerische Ministerpräsident einen „Deutschlandpakt gegen unkontrollierte Zuwanderung“ in Anspielung auf den vom Bundeskanzler eingeforderten „Deutschlandpakt“, indem es weniger um eine Begrenzung von Migration als um eine Modernisierung des Landes geht, beispielsweise in der Digitalisierung.

Bleibt noch als ein dritter mutmaßlicher Beweggrund für diese Wende in der Debatte um Flucht- und Migrationszahlen das anhaltende Umfragehoch der AfD. Die Marke von 20 Prozentpunkten wurde schon vor vielen Wochen durchbrochen und es deutet aktuell nichts darauf hin, dass sich die Alternative für Deutschland hier im Sinkflug befände.

Einige Umfrageinstitute sehen die Partei von Weidel und Chrupalla neuerdings sogar schon bei 23 Prozent, der Abstand zur Union schrumpft hier auf wenige Prozentpunkte. Nähme man die CSU aus der Zählung heraus, dann wäre die AfD auf dem Siegertreppchen ganz oben. Laut Umfrage von infratest dimap im September 2023 erreicht die AfD in Mecklenburg-Vorpommern sogar 32 Prozent.

Das sind nur drei mögliche Gründe für einen in Politik und den Medien seit Wochen ähnlich klingenden Warnton, wie ihn gestern etwa SPD-Chefin Saskia Esken bei Markus Lanz im ZDF verlauten ließ, als sie kritisch bemerkte, dass von den Ankommenden in der Europäischen Union derzeit über 30 Prozent Deutschland als Ziel genannt hätten: „Das ist Schengen, das nicht funktioniert und Dublin, das nicht funktioniert.“ Irritiert stellte Esken zudem fest, dass Deutschland „viel mehr Verantwortung“ übernehme, als es eigentlich müsste.

Die Menschen werden nach Deutschland durchgeschickt

Saskia Esken insinuiert zudem eine Art Komplott gegen Deutschland konkret im Zusammenhang mit den Lampedusa-Migranten: „Die wollen nicht alle zu uns, sondern die werden auch zu uns geführt. Das wissen wir.“ Die Bilder von vollkommen überfüllten Flüchtlingslagern würden ihr zufolge „nicht ohne Absicht produziert. Die Menschen werden nicht ordentlich registriert, sondern werden direkt durchgeschickt auf den Weg nach Deutschland.“

Gleichwohl bleibt die SPD-Chefin weiter ambivalent und spart auch nicht mit Lob für die Bundesregierung. Diese habe „wesentliche Dinge vorangebracht mit der Beschleunigung der Asylverfahren, auch mit der Beschleunigung von Rückführungen“.

Das ZDF hat sich diese Behauptung einmal näher angeschaut und nachgelegt: „Tatsächlich waren es in den ersten sechs Monaten des Jahres 7.861 Abschiebungen. Das ging aus einer Antwort des Bundesinnenministeriums auf Anfrage der Linken hervor.“ Die Zahl der zur Abschiebung anstehenden Personen ist aber um ein Vielfaches höher. Die Nichtregierungsorganisation (NGO) Pro Asyl erinnert in dem Zusammenhang daran, dass drei Viertel aller abgelehnten Asylbewerber einen Aufenthaltstitel bekommen.

Die FDP ist zwar Regierungspartei, aber auch bei den Liberalen wird Kritik an der Migrationspolitik lauter. In einem aktuellen Beschluss des Präsidiums vom 18. September dieses Jahres fordern die Liberalen dazu auf, irreguläre Migration rechtsstaatlich und geordnet wirksamer zu bekämpfen und spürbar zu reduzieren. Im Grundsätzlichen allerdings bleibt die Partei unter der Führung von Finanzminister Christian Lindner vorsichtig ambivalent: „Deutschland ist auf Migration angewiesen – auf Fachkräftemigration in den Arbeitsmarkt!“

Parteichef Lindner selbst forderte gestern, Deutschland solle „schon während des Asylverfahrens auf Sachleistungen setzen“. Und Lindners Generalsekretär wird von der „Frankfurter Rundschau“ so zitiert: „Wir nehmen niemanden aus Lampedusa auf.“ Lindner ergänzt: „Ohne Steuerung der Einwanderung würde jedes System öffentlicher Ordnung und sozialer Sicherheit zwangsläufig zusammenbrechen.“

Friedrich Merz wartet ab

CDU-Parteichef und Oppositionsführer Friedrich Merz agiert weiter zurückhaltend, dafür sprintet der Chef der Jungen Union in der Migrationskritik voran, Epoch Times hat dazu ausführlich berichtet.

Selbst die politisch der Migration am positivsten gegenüberstehenden Grünen schließen sich jetzt punktuell den Warnungen und der Kritik an. So attestiert auch der Co-Chef der Grünen, Omid Nouripour, gegenüber „n-tv-Frühstart“ eine Reihe gravierender Probleme. Er forderte eine schnelle Lösung in der Migrationspolitik und will die Kommunen stärker unterstützen: „So wie es in den Kommunen und an den Außengrenzen ist, kann es nicht bleiben.“ Die vom Bundeskanzler auf dem Städtetag zugesagte eine Milliarde Euro sei zu wenig, außerdem müsse in Schulen und Kitas dringend Personal aufgestockt werden.

Um Personal geht es auch beim Bayerischen Ministerpräsidenten, der jetzt versprach, für Bayern zusätzliche Grenzpolizisten einzustellen; er will die aktuell etwas mehr als 800 Beschäftigten auf 1.500 aufstocken, allerdings erst bis 2028. Welche Kompetenzen diese Polizei dann tatsächlich bei Zurückweisungen hat, wird erst die Zukunft erweisen.

Auch Sigmar Gabriel (SPD), Ex-SPD-Chef – bis 2018 Vizekanzler und zeitweilig Außenminister unter Angela Merkel – äußerte sich kritisch. Die „Welt“ etwa titelte in Anspielung auf einen Refugees-Welcome-Sticker aus der „Bild“, den Gabriel 2015 einmal auf der Regierungsbank am Sakko trug: „Von ‚Refugees Welcome‘ zu Rückführungen – die Wende des Sigmar Gabriel“.

Der Politiker selbst forderte dazu auf, „Hilfsbereitschaft und Mitmenschlichkeit“ mit klaren und durchsetzbaren Regeln für die Begrenzung von Zuwanderung zu verbinden. Auch durch den „lauten Protest der Pro-Asyl-Szene“ dürfe man sich nicht von einer „klugen neuen Flüchtlingspolitik“ abbringen lassen.

Auf dem Gipfel der Ambivalenz: Große Sorge und großer Familiennachzug

Nicht zuletzt die im Kabinett für Innenpolitik zuständige Nancy Faeser (SPD) formulierte jetzt eine „große Sorge“ angesichts der Bilder aus Lampedusa. Faeser erinnerte aber zeitgleich auch daran, dass Deutschland seiner „humanitären Verantwortung durch die Aufnahme und Versorgung einer großen Zahl von Geflüchteten“ gerecht werden müsse und befand weiter: „Das gilt auch für Aufnahmen über den freiwilligen Solidaritätsmechanismus“. Die Erleichterung hinsichtlich des Familiennachzuges dementierte die Innenministerin über mehrere Medien.

Auch der amtierende Bundespräsident und einer seiner Vorgänger haben sich kritisch zur Migrationspolitik geäußert. Frank-Walter Steinmeier (SPD) sagte angesichts der Bilder von Lampedusa bei einem Aufenthalt in Italien, dass sich Deutschland und Italien an der Belastungsgrenze befänden: „Ich nehme es deshalb ernst, wenn ich aus Italien, aber auch aus deutschen Städten laute Hilferufe höre“.

Der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck meldete sich ebenfalls zu Wort und sagte, dass es moralisch nicht verwerflich sei, „Zuwanderung zu begrenzen“. Es sei sogar „politisch geboten“. Gauck geht in der Formulierung noch weiter als andere: In der Migrationspolitik müsse man „Spielräume entdecken, die uns zunächst unsympathisch sind, weil sie inhuman klingen“.

Portal rüsten um: T-Online kauft kritische Stimme ein

Aber auch Medien zeigen sich mittlerweile zerrissen, was eine grundsätzlich positive Beurteilung der Migrationspolitik anbelangt. Das Portal „t-online“ etwa, das sich als Medium immer wieder proaktiv zur Zuwanderung und dem Kurs der Bundesregierung bekannt hatte, hat sich jetzt mit dem Ex-Cicero Christoph Schwennicke ein neues Mitglied der Chefredaktion geleistet, den man als eine Art Gegengewicht zum in den sozialen Medien immer heftiger kritisierten Lars Wienand verstehen könnte mit der Intention etwa, das Portal wieder in ruhigeres oder explizit regierungskritischeres Fahrwasser zu rudern.

So starte Schwennicke gleich mal damit, im Gegensatz zu Angela Merkels „Wir schaffen das“ zu befinden: „Wir sind gescheitert“, so lautet die Schlagzeile eines Kommentars. Darin heißt es – und man darf es stellvertretend gleich für eine ganze Reihe von migrationskritischen Artikeln in weiteren etablierten Medien nehmen: „Der Kontrollverlust von 2015 hat in Wahrheit bis heute angehalten.“

Aber auch Schwennicke hat letztlich keine echte Lösung parat, wenn er in seinem Text abschließend mit Blick auf die überwiegend jungen – oft muslimischen – Männer, die zu uns kommen, formuliert:

„Der Tatendrang dieser jungen Männer, der sich im Moment leider zu oft in Gewalt entlädt, muss ins Konstruktive kanalisiert werden – mit einem Anreiz auf Bestätigung, Anerkennung und Integration, die sich dann an jedem Tag ganz praktisch vollzieht. Wenn sie, wie jetzt, gelangweilt und gefrustet an den Bahnhöfen oder in den öffentlichen Parks herumhängen, kann von Integration keine Rede sein.“



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