Staudamm-Katastrophe: Behörden registrieren ein massenhaftes Fischsterben und Seuchengefahr

Nahe der ukrainischen Stadt Nowa Kachowka zerstört eine heftige Explosion einen wichtigen Staudamm. Es fällt das Wort Kriegsverbrechen. Doch Verantwortlichkeit und Motiv bleiben zunächst unklar.
Straßen in Cherson sind überflutete Straßen, nachdem der Kachowka-Damm gesprengt wurde.
Straßen in Cherson sind überflutete Straßen, nachdem der Kachowka-Damm gesprengt wurde.Foto: Libkos/AP
Epoch Times7. Juni 2023

In dem seit mehr als 15 Monaten andauernden Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist die Explosion am Kachowka-Staudamm ein weiterer Tiefpunkt, der die Welt schockiert. Nach der Zerstörung auch des angrenzenden Wasserkraftwerks sind noch viele Fragen offen.

Das Gebiet: Der Kachowka-Staudamm und das angrenzende Wasserkraftwerk liegen in der Stadt Nowa Kachowka in dem von Russland besetzten Teil der ukrainischen Region Cherson. Russland hatte das Nachbarland Ukraine im Februar 2022 überfallen und dann auch das Gebiet Cherson besetzt. Die gleichnamige Gebietshauptstadt ist aber unter ukrainischer Kontrolle, Städte südlich des Flusses Dnipro wie Nowa Kachowka sind hingegen in russischer Hand. Der Fluss, der in dieser Gegend etwa die Frontlinie darstellt, wird in Nowa Kachowka zum sechsten und letzten Mal vor dem Schwarzen Meer auf 200 Kilometer Länge gestaut. Nun sind die Stadt und viele Ortschaften geflutet.

Die Verwüstungen: Der Staudamm und das Wasserkraftwerk sind nach Angaben beider Kriegsparteien schwer beschädigt. Der nahe der Kriegsfront gelegene und Mitte der 1950er-Jahre in Betrieb genommene Staudamm ist größtenteils zerstört. Aus dem Stausee fließt das Wasser ab. Behörden in Cherson sprachen am Mittwoch von weiteren Zerstörungen an der Staumauer. Das Hochwasser kann weiter steigen in den Ortschaften. Manche Dörfer sind komplett versunken im Wasser, 80 Ortschaften liegen in der Überschwemmungszone. Die Ukraine wirft russische Truppen vor, sie hätten den Damm und das Kraftwerk gesprengt. Russland wirft ukrainischen Streitkräften Beschuss vor.

Die Vergangenheit: Schon lange wurde befürchtet, dass der Staudamm zerstört und das Gebiet überflutet werden könnte. Denn es ist nicht das erste Mal, dass er Ziel von Attacken wird. Im Herbst 2022 etwa hatten ukrainische Kräfte die Brücke über den Staudamm mit Präzisionsschlägen angegriffen und den russischen Nachschub gestört. Russische Truppen wiederum hatten bei Rückzügen mit kontrollierten Sprengungen weitere erhebliche Schäden angerichtet. Bald war Brücke nicht mehr passierbar. Für besondere Beunruhigung sorgte, als die Besatzer im November die Evakuierung Nowa Kachowkas ankündigten.

Das Atomkraftwerk: Für das am nördlichen Ende des Stausees gelegene Kernkraftwerk Saporischschja bestehe keine unmittelbare Gefahr, heißt es übereinstimmend von der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) und den Atomkonzernen in Russland und in der Ukraine. Der IAEA zufolge werden aber in dem von Russland besetzten AKW Maßnahmen zum Weiterbetrieb der Kühlsysteme getroffen, die normalerweise mit dem aufgestauten Wasser gespeist werden. Verhindert werden muss, dass die Reaktorkerne und der Atommüll gefährlich überhitzen.

Die Verantwortung: Moskau und Kiew weisen sich gegenseitig die Schuld an der Explosion zu. Während die Ukraine Russland Staatsterrorismus vorwirft, beschuldigt Moskau die Truppen Kiews der vorsätzlichen Sabotage. Keine der beiden Seiten legte bislang Beweise vor. Der Westen macht Russland, das den Krieg begonnen hat, für die Tat verantwortlich. Experten des US-Instituts für Kriegsstudien (ISW) in Washington gehen angesichts der Beweise und der Argumente davon aus, dass Russland den Staudamm absichtlich zerstört hat. Zugleich weisen sie darauf hin, dass eine endgültige Bewertung der Verantwortung derzeit nicht möglich sei.

Das Motiv: Spekuliert wird, dass der Vorfall ein russischer Anschlag sein könnte, um eine ukrainische Gegenoffensive auszubremsen. Moskau streitet das ab. Die Überschwemmungen betreffen besonders die von Russland besetzte Region südlich des Dnipro, die als ein Hauptziel eines solchen möglichen Vormarsches Kiews gilt. Die Ukraine will ihre Gebiete von der russischen Besatzung befreien. Der Militärexperte Carlo Masala von der Bundeswehr-Universität München sieht im Gespräch mit „t-online“ Russland in der Verantwortung. Moskau wolle eine Gegenoffensive der Ukraine behindern. Gleichwohl hat die Flut auch russische Verteidigungsstellungen im Gebiet Cherson nun zerstört.

Die Auswirkungen: Noch unklar ist, wie sehr die Überschwemmungen das Gebiet verwüsten. Klarheit über Schäden soll es in einigen Tagen geben. Doch ist schon jetzt deutlich, dass nicht nur viele Häuser zerstört sind. Tausende Menschen haben ihr Hab und Gut verloren, müssen samt Haustieren in Sicherheit gebracht werden. Es gibt zahlreiche Vermisstenfälle. Zu Verletzten gab es zunächst keine Angaben. Die für den Getreideanbau der Ukraine wichtigen landwirtschaftlichen Flächen sind unbrauchbar. Behörden registrieren ein massenhaftes Fischsterben und Seuchengefahr. Zehntausende Menschen sind direkt betroffen.

Die Umweltkatastrophe: Die ukrainische Regierung spricht von der größten menschengemachten Umweltkatastrophe der vergangenen Jahrzehnte in Europa. Industriebetriebe sind zerstört. Chemikalien und andere Schadstoffe treten aus. Nach nicht unabhängig prüfbaren Angaben der ukrainischen Führung sind mindestens 150 Tonnen Maschinenöl in den Fluss Dnipro gelangt. 300 weitere Tonnen Öl drohten noch auszulaufen. Auch Flora und Fauna werden in Mitleidenschaft gezogen durch die Fluten.

Die Versorgung: Hunderttausende Menschen haben laut Behörden in einem größeren Einzugsgebiet keinen normalen Zugang zu Trinkwasser mehr. Tausende sind direkt betroffen. Den südlich gelegenen Orten und auch der von Russland annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim könnte eine Knappheit bei der Wasserversorgung drohen, denn sie werden aus dem Kachowka-Stausee beliefert. Auch Ortschaften stromaufwärts könnten betroffen sein, wenn das riesige Wasserreservoir etwa für die Landwirtschaft fehlt. Die Ukraine braucht Getreide und andere Produkte nicht nur für die Selbstversorgung, sondern auch zum Geldverdienen im Export. (dpa/er)



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