Türkei: Opposition will Erdoğan ablösen – hat aber keinen Kandidaten

Im Juni 2023 will die Opposition in der Türkei die Ära Erdoğan nach 20 Jahren beenden. Trotz wirtschaftlicher Probleme traut man ihr jedoch wenig zu.
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Recep Tayyip Erdogan, Präsident der Türkei, beim Europa-Gipfel in Prag am 6. Oktober 2022.Foto: LUDOVIC MARIN/AFP via Getty Images
Von 30. Dezember 2022

Seit dem 14. März 2003 ist Recep Tayyip Erdoğan die bestimmende politische Persönlichkeit in der Türkei. Der religiös-konservative Politiker trat an diesem Tag sein Amt als Premierminister an. Seit 2014 ist er Präsident des Landes, seit 2018 unter den Bedingungen eines Präsidialsystems. Im kommenden Jahr will er sich noch einmal um eine letzte Amtszeit bewerben. Die Opposition gibt sich entschlossen, dieses Vorhaben zu vereiteln.

„Sie sagen, es reicht. Du bist müde geworden, zieh dich zurück. Es wird eine neue Ära beginnen“, sagte der Chef der größten Oppositionspartei CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, der „Deutschen Presse-Agentur“. Die Menschen in der Türkei sehnten sich nach „Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit“.

Wahlen finden im Juni 2023 statt

Die Parlaments- und Präsidentenwahlen in der Türkei finden regulär im Juni 2023 statt, könnten aber vorgezogen werden. Ein Sechserbündnis, darunter die CHP und die nationalkonservative IYI-Partei, will einen gemeinsamen Kandidaten gegen Erdoğan aufstellen. Zudem wollen sie das derzeitige Präsidialsystem abschaffen und das Justizsystem reformieren. Dieses, so klagt die Opposition, stehe unter der Kontrolle der Regierung.

Die von Erdoğan gegründete AKP kann sich wieder auf ihre Bündnispartner aus der „Idealistenbewegung“ stützen. Bei diesen handelt es sich um die „Partei der Nationalistischen Bewegung“ (MHP) und die „Partei der Großen Einheit“ (BBP).

Würde es nur um Themen wie Wirtschaft oder Korruption gehen, wären die Chancen der Opposition intakt. Vorausgesetzt, es gelingt ihr, sich hinter einem gemeinsamen Kandidaten zu vereinen. In beiden Bereichen ist die Unzufriedenheit mit der regierenden AKP und ihren Bündnispartnern groß.

Dazu kommen wachsende Ressentiments gegen die fast vier Millionen Flüchtlinge, die sich seit fast zehn Jahren im Land aufhalten. Die meisten von ihnen kommen aus den Bürgerkriegsgebieten Syriens, einige auch aus dem Irak.

Unter Erdoğan wurde die Türkei zum internationalen Machtfaktor

Allerdings konnte die AKP bislang nicht nur auf die Zerstrittenheit der Opposition und schwache Kandidaten zählen. Erdoğan gelang es immer wieder, selbst die Agenda zu setzen und sich als starker und unbeugsamer Führer der Türkei in unsicheren Zeiten darzustellen.

Erdoğan setzt längst nicht mehr nur wie früher darauf, die postsäkulare Türkei vor einem Rückfall in alte Zeiten zu bewahren. Er tritt als Beschützer der Türkei gegen äußere Feinde, als Wahrer der Interessen der islamischen Welt und als internationaler Machtfaktor auf. Er ringt dem Westen Zugeständnisse ab und tritt als Vermittler im Ukrainekonflikt auf.

Unter seiner Führung erhebt die Türkei innerhalb der NATO ihre Stimme und wahrt gleichzeitig die Gesprächskanäle mit Russland.

Möglichem Hoffnungsträger droht Politikverbot

Gleichzeitig hat die Opposition noch nicht einmal einen Herausforderer für den amtierenden Präsidenten namhaft gemacht. Ein möglicher Kandidat, dem Erfolgschancen zugetraut wurden, steht möglicherweise von vornherein nicht zur Wahl: Istanbuls Bürgermeister Ekrem Imamoğlu war Mitte Dezember wegen Beleidigung der Wahlbehörde zu zwei Jahren Haft verurteilt worden. Wird das Urteil rechtskräftig, wäre damit ein Politikverbot verbunden.

Die Opposition sieht das Urteil als politisch motiviert, sollte die Berufungsinstanz es bestätigen, scheidet Imamoğlu als Kandidat aus – ob die Vorwürfe zutreffen oder nicht.

Mögliche weitere Kandidaten der Republikanischen Volkspartei (CHP) wären der Bürgermeister von Ankara, Mansur Yavaş, oder der seit 2010 amtierende Parteichef Kemal Kılıçdaroğlu. Dieser hat der früheren kemalistischen Staatspartei eine Modernisierung verordnet. Mittlerweile akzeptiert er beispielsweise das Recht religiöser Frauen, auch im öffentlichen Raum ein Kopftuch zu tragen – für die CHP eine Zeitenwende. Viele religiöse Wähler, die noch die Vor-Erdoğan-Ära in Erinnerung haben, trauen der CHP dennoch nicht über den Weg. Die Szenen der 1990er-Jahre, als Polizisten Hidschab tragende Frauen vom Gelände einer Universität geknüppelt hatten, haben sich in das kollektive Gedächtnis vieler Türken eingebrannt.

Zudem haftet Kılıçdaroğlu nach einer Reihe von Niederlagen das Image des ewigen Zweiten an. Die Wähler trauen ihm außenpolitisch auch nicht das starke Auftreten Erdoğans zu. Skepsis überwiegt darüber hinaus, was Kılıçdaroğlus Fähigkeiten anbelangt, die Wirtschaft in Gang zu bringen. Die Türkei erlebt derzeit eine enorme Inflation – allerdings war eine solche unter CHP-Regierungen häufig noch höher.

Neugründungen prominenter AKP-Politiker blieben Splitterparteien

Ökonomische Kompetenz trauen die Wähler in der Opposition vor allem Ali Babacan zu, der Erdoğan bis 2015 in mehreren Ministerämtern diente. So war er unter anderem Wirtschaftsminister, EU-Beitrittsverhandler und Außenminister. Im Jahr 2020 gründete er die „Partei für Demokratie und Fortschritt“ (DEVA). Dieser gelang jedoch keine flächendeckende Präsenz und deshalb ist sie Splitterpartei geblieben.

Gleiches gilt für den langjährigen Außenminister Ahmet Davutoğlu, der mit der „Zukunftspartei“ ebenfalls eine eigene Formation aus der Taufe hob. Er genießt für seine Außenpolitik nach wie vor ein gewisses Ansehen bis in konservative Kreise hinein. Allerdings hat keine Umfrage seit Juni 2020 seine Partei mehr als über zwei Prozent gesehen.

Ein weiteres Problem, das der Opposition auch bei den Parlamentswahlen schaden könnte, ist die Gründung einer Vielzahl an weiteren Splitterparteien aus diesen Formationen. Keine von ihnen könnte sich Hoffnung auf mehr als zwei Prozent der Stimmen machen. Gelingt es aber nicht, sie in Wahlbündnisse der Opposition zu integrieren, könnten diese Anteile zur Mehrheit in Stimmkreisen fehlen.

Bodenoffensive der Türkei in Syrien könnte Wähler hinter Erdoğan scharen

Ein Achtungserfolg ist der Gründerin der „Guten Partei“ (IYI), Meral Akşener, zuzutrauen. Die Politikerin stammt ebenfalls aus der nationalistischen „Idealistenbewegung“. Allerdings hatte sie sich mit MHP-Chef Devlet Bahçeli wegen seines Bündnisses mit Erdoğan überworfen. Das mögliche Ergebnis der Partei – bisherige Umfragen sehen dieses bei etwa 14 Prozent – dürfte unterdessen deutlich besser ausfallen als das ihrer Präsidentin. Nach einem Hoch im Januar, als Akşener als Präsidentschaftshoffnung der Opposition galt, sind ihre Wahlaussichten wieder in den einstelligen Bereich gesunken.

In Summe könnte am Ende erneut die Geschlossenheit der Anhängerschaft den Ausschlag für Erdoğan geben. Berichte über die Erschließung eines neuen Gasfeldes im Schwarzen Meer relativieren die Wirtschaftskrise in den Augen der Wähler und verhelfen somit der AKP zu höherer Gunst. Gleiches gilt für eine mögliche neue Bodenoffensive gegen den PKK-Ableger YPG im Norden Syriens.

Ein weiterer Faktor, der Erdoğan hilft, ist, dass die vor allem in den Kurdengebieten gewählte HDP stabil bei zehn Prozent liegt. In einigen Provinzen im Südosten der Türkei kommt sie auf stabile absolute Mehrheiten.

Die Opposition hat aber wenig davon. Die HDP gilt bis in die Reihen der CHP als außerhalb des Verfassungsbogens stehend. Viele ihrer regionalen Verwaltungsleiter gelten als von der terroristischen PKK gesteuert. Da der Nationalismus eines der kemalistischen Prinzipien darstellt, würde ein Bündnis mit der separatistischen HDP auch in der Anhängerschaft von CHP oder IYI nicht toleriert. Selbst Erdoğan-kritische Wähler dieser Parteien würden in diesem Fall zur MHP oder BBP oder in die Wahlenthaltung abwandern.

(Mit Material der dpa)



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