Den Blick aufs eigene Land ausgelassen

Erstes Interview mit Altkanzlerin Angela Merkel seit der Amtsübergabe: Die Ukraine-Krise bleibt das einzige Thema beim Gespräch im Berliner Theater.
Titelbild
Interview mit der ehemaligen Bundeskanzlerin im Berliner Ensemble am 7. Juni 2022.Foto: Sean Gallup/Getty Images
Von 11. Juni 2022

Sie hat ihre Liebe für Hörbücher entdeckt und in der Russland-Politik hat sie sich nichts vorzuwerfen. Alt-Kanzlerin Angela Merkel stellte sich fast auf den Tag genau sechs Monate nach der Amtsübergabe an Olaf Scholz (SPD) den Fragen des Journalisten Alexander Osang.

Eingeladen hatte für den vergangenen Dienstagabend ins Theater Berliner Ensemble der Aufbau-Verlag, bei der Merkels Buch „Was also ist mein Land?“ mit drei Reden über zentrale Themen ihrer Zeit als Kanzlerin erschienen ist. Der TV-Sender „Phoenix“ übertrug das Interview live.

Osang hatte Merkel während ihrer Amtszeit mehrfach interviewt und erinnerte zu Beginn humorvoll an einige Begegnungen. So bekam das 97-minütige Interview einen Hauch von Boulevard übergestreift, der sich trotz des Hauptthemas Ukraine-Krise durch den Abend hielt.

Eine entspannt wirkende Ex-Staatschefin präsentierte sich schlagfertig und mit Witz. Um die lockere Atmosphäre zu unterstreichen, verfielen die Gesprächspartner immer wieder in Berliner Dialekt, was allerdings oft reichlich konstruiert wirkte. Nach anfänglichem Geplänkel näherten sie sich der Krim-Krise, dessen erster Teil in den Jahren 2014/15 in die Amtszeit der CDU-Politikerin fiel.

Mit harschen Worten griff Merkel Putin an, bezeichnete sein Vorgehen als „das Völkerrecht missachtenden Überfall, für den es keine Entschuldigung gibt“. Die militärische Sprache sei die einzige Sprache, die Putin verstehe.

Kalter Krieg „nie beendet“

Bereits 2007 sei klar gewesen, „dass da ein großer Dissens ist“, zitiert die „Tagesschau“ auf ihrer Website Merkel. So habe Putin damals bei ihrem Besuch in Sotschi gesagt, dass der Zerfall der Sowjetunion für ihn „die schlimmste Sache des 20. Jahrhunderts“ gewesen sei.

Letztlich sei es nie gelungen, „den Kalten Krieg wirklich zu beenden“. Spätestens beim G20-Gipfel im Oktober 2021 und den Hinweisen der Nachrichtendienste sei klar geworden, dass die Situation „brenzlig“ sei. „Es war klar, dass man das sehr ernst nehmen muss“, so Merkel.

„Volles Vertrauen“ in die neue Regierung

In die neue Regierung unter Kanzler Olaf Scholz (SPD) habe sie „volles Vertrauen“. Es seien Menschen am Werk, die keine „Newcomer“ seien und die Gegebenheiten kennen würden. Und für den Fall, dass es mal nicht so laufe, habe sie noch ihre Hebel. „Wenn jetzt etwas passieren würde (…), wo ich sage, das geht in die vollkommen falsche Richtung, dann kann ich sehr viele anrufen. Das musste ich aber noch nicht.“

Osang verlas bei dem Gespräch auch eine Frage des ukrainischen Botschafters Andrij Melnyk, wie Epoch Times auf ihrer Online-Seite berichtet. Er warf demnach Merkel vor, mit Appeasement-Politik den russischen Angriff überhaupt erst möglich gemacht zu haben.

Merkel wies dies jedoch zurück. Sie nannte dabei auch die Minsker Friedensabkommen, die nach der russischen Annexion der Krim 2014 geschlossen wurden. Ohne diese Vereinbarungen „hätte Putin Riesenschaden in der Ukraine anrichten können“, meinte die Altkanzlerin. Und die vergangenen sieben Jahre seien für die Entwicklung des Landes „ganz, ganz wichtig“ gewesen, um nun Widerstand zu leisten.

Auch die Philippinen schenken Merkel Aufmerksamkeit

Ausländische Medien griffen den ersten Auftritt Merkels nach dem Ende ihrer Kanzlerzeit auf und fokussierten sich auf ihre Kritik an der Russland-Politik. Dabei scheint ihre Bedeutung weiterhin groß, ihre Meinung gefragt zu sein.

So widmet gar die philippinische Zeitung „Manila Standard“ dem Auftritt im Berliner Theater Aufmerksamkeit. Putin wolle Europa „zerstören“, zitiert das Blatt die Ex-Kanzlerin. Zusammenhalt sei daher sehr wichtig für die Europäische Union. Russland sei auch zu groß, um es zu ignorieren. Es müsse daher „trotz aller Differenzen“ ein Weg für eine Koexistenz gefunden werden.

Der britische „The Guardian“ zitiert unter anderem Merkels Rechtfertigung für ihre Russland-Politik. „Ich würde mich sehr schlecht fühlen, wenn ich gesagt hätte: Es hat keinen Sinn, mit diesem Mann (Putin) zu reden.“ Es sei „eine große Tragödie“, dass es nicht geklappt hat. „Aber ich mache mir keine Vorwürfe, dass ich es versucht habe.“

Die flapsige Bemerkung Osangs, dass die Bundeswehr unter ihrer Ägide „verlottert“ sei, wollte Merkel allerdings nicht auf sich sitzen lassen. Der Wehretat sei so hoch gewesen wie der von Frankreich oder Großbritannien. Auch habe die Bundeswehr in Afghanistan 20 Nationen mitgeführt und sich bei weiteren Auslandseinsätzen profiliert. Zudem lastete sie der SPD an, sich lange gegen den Kauf von bewaffneten Drohnen gewehrt zu haben.

Was fehlte an diesem Abend, war ein Blick aufs eigene Land. Zum Beispiel die Auswirkungen der politischen Entscheidungen in der Corona-Krise, die Flüchtlingspolitik, die Folgen des Krieges in der Ukraine und die Konsequenzen, die daraus in der Zukunft resultieren.



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