„Spiegel“-Leser zu Fake-News-Skandal: „Glaube nicht, dass ihr Euch davon je wieder erholen werdet“

Die führenden „Spiegel“-Redakteure Steffen Klusmann und Dirk Kurbjuweit äußern sich in einem Beitrag zum Skandal um Fake-News des Nachwuchsjournalisten Claas Relotius selbstkritisch und geloben Besserung. Nicht jeder Leser ist davon überzeugt.
Von 20. Dezember 2018

„Wir haben sehr viele Fragen an uns selbst“, geben sich der künftige Chefredakteur des „Spiegel“, Steffen Klusmann, und der stellvertretende Redaktionschef Dirk Kurbjuweit einen Tag nach Bekanntwerden des Fake-News-Skandals um Nachwuchsjournalist Claas Relotius selbstkritisch. Dieser habe „für den SPIEGEL viele große Reportagen geschrieben, aber leider enthalten wohl die meisten erfundene Passagen“.

Als Konsequenz daraus geben Klusmann und Kurbjuweit das feierliche Versprechen ab:

Es tut uns leid, was passiert ist – und wir werden den Fall in aller Demut aufarbeiten.“

Man könne die ganze Dimension des Falles zwar noch nicht wirklich abschätzen, habe sich aber zur Flucht nach vorne entschlossen und ihn selbst publik gemacht, bevor andere dies gemacht hätten. Nun habe man begonnen, aufzuklären und man wolle ein „Komitee bilden, das jeden Stein umdrehen soll“.

Denn wir wollen wissen, was genau warum passiert ist, damit es nie wieder passieren kann. Wir haben sehr viele Fragen an uns selbst, und die Antworten werden wahrscheinlich einiges in unserem Haus verändern.“

Eigener Erwartungsdruck als primäre Ursache?

Klusmann und Kurbjuweit bedauern zudem, dass der Fall Relotius nun „den Kampf gegen Fake News noch schwerer macht, für alle: für die anderen Medien, die an unserer Seite stehen, für die Bürger und Politiker, denen an einem wahren Bild von der Realität liegt“.

Auch bei diesen wolle man sich entschuldigen. Aber man könne ihnen versichern:

Wir haben verstanden. Und wir werden alles tun, um aus unseren Fehlern zu lernen.“

Die führenden Redakteure erklären das Handeln des vielfach preisgekrönten Journalisten mit dem hohen Erwartungsdruck, den dieser sich selbst gesetzt habe und den die vielen Preise, die er erhielt, noch zusätzlich verstärkt hätten.

Ihm machte das Druck, seine Erfolge zu wiederholen, den nächsten Preis zu gewinnen. Er glaubte offenbar, dies nur über Fälschungen zu schaffen.“

Im Kampf um die eigene Glaubwürdigkeit wolle man weiter Freiheit und Kreativität zulassen, es dürfe „aber auch nicht zu kreativ werden“.

Man wolle den Fall Relotius „in aller Demut aufarbeiten“. Das sei man dem Leser schuldig – und:

Wir lieben unseren SPIEGEL, und es tut uns leid, dass wir ihm, unserem guten, alten Freund, diese Krise nicht ersparen konnten.“

Antiamerikanischer Konsens als Hindernis für kritisches Hinterfragen?

In den sozialen Medien wollen nicht alle dem Braten so recht trauen. Manche meinen, die „Spiegel“-Redaktion bedauere, erwischt worden zu sein, mehr als die zum Teil frei erfundenen Geschichten des Claas Relotius selbst. Die Aufdeckung des Skandals kam aus den eigenen Reihen und wurde offensiv und aus eigenem Antrieb vorgenommen.

Andererseits war es möglicherweise nur noch eine Frage der Zeit, bis der Inhalt von Artikeln US-amerikanischer Medien auch im deutschsprachigen Raum die Runde machen würde, in denen beispielsweise im Detail Falschdarstellungen in Relotius-Reportagen wie jener über die Verhältnisse in der US-Stadt Fergus Falls widerlegt wurden.

Autor Eric T. Hansen stellt einen davon beispielsweise auf Facebook vor und schreibt dazu:

„Der Spiegel ist eine der nationalistischsten und in seinem Anti-Amerikanismus eine der quasi-rassistischsten Zeitungen Deutschlands. Der Grund, warum Claas Relotius mit seinen Erfindungen durchkommen konnte, ist, dass er die quasi-rassistischen Klischees der Redaktion und der Bevölkerung bestätigte.

Wenn ein ganzes Volk und seine Medien an quasi-rassistischen Klischees über andere Völker fest glauben, stellt niemand diese Klischees in Frage. Deshalb hat kein Redakteur gesagt: ‚Moment mal, ich lese hier Klischee auf Klischee, das passt so gut zu unserer Vorstellung von Amerika und bestätigt so genau unsere Vorurteile, und als Journalist weiß ich, dass Vorurteile meist nicht zu der Realität so genau passen, vielleicht sollte ich ein oder zwei Sachen hier überprüfen.‘

Wer seine Vorurteile unbedingt bestätigt sehen will, der fragt nicht nach. Der Fall Claas Relotius ist keine bizarre Ausnahme, sondern ein Symptom einer tiefverwurzelten Fremdenfeindlichkeit.“

Deutsche Medien: Zu selbstgerecht, um zu lernen?

Auch im Kommentarbereich zum Artikel von Klusmann und Kurbjuweit auf Facebook äußern Leser die Auffassung, der Fake-Skandal sei nicht Fehler im System des deutschen Qualitätsjournalismus, sondern dessen Konsequenz. Vor allem Selbstgerechtigkeit und ideologische Voreingenommenheit wären es demnach gewesen, die Journalisten wie Relotius überheblich werden ließen.

Leser Lutz Christian schreibt:

„An der Demut dürfen erhebliche Zweifel bestehen, geht es doch in der bisherigen ‚Selbstkritik‘ vornehmlich um Entschuldigungen. Darum, das Tun des Fälschers noch zu erheben und edle Motive herauszustellen. Eigener und äußerer ‚Druck‘ machten den Täter zum Opfer, eine beim Spiegel bekannte Umkehr. Auch darum, sich selbst zu entschuldigen.

Dass man einem Shooting Star nicht kritisch gegenübergetreten ist. Dass die Texte so ‚perfekt‘ gewesen seien, dass Zweifel erst gar nicht aufkamen. Und nicht erwähnt, dass man gerne las, was man lesen wollte.

In den Redaktionen, weil es so wunderbar in den Gesinnungsjournalismus passte. Und bei dem huldigenden Spiegelklientel, weil es diese Gesinnung des Journalismus so gerne liest, aufgreift und (be-)nutzt. Das machte es dem Fälscher ja auch so unsagbar einfach. Bedienen, wonach Kollegen und Leser lechzen, Kritik wird ohnehin (in den meisten Fällen als rechts) abgebügelt. ‚Angriff ist die beste Verteidigung‘ folgend möchte man seine Art, seinen Stil verteidigen und fortführen.

Die Entschuldigung der Fälschungen ist ja nicht minder geschickt aufgebaut als die Fälschung selbst. Damit ist ‚Sagen, was ist‘ noch immer nicht Leitmotiv, aber es macht sich gut. Besser als ‚Sagen, was sein soll‘.“

Zweifel an Brieftaschen-Storys

Nicht nur die Reportagen von Relotius aus den USA geraten ins Visier kritischer Kommentare, auch der Wahrheitsgehalt von Beiträgen des Journalisten zur Flüchtlingsthematik wird mittlerweile angezweifelt.

Relotius hatte beispielsweise über syrische Kinder geschrieben, denen Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel im Traum erscheine, oder über syrische Flüchtlinge in Deutschland selbst, die auf der Straße gefundene Brieftaschen mit vierstelligen Eurosummen bei der Polizei abgegeben haben sollen.

Rechtsanwalt Ralf Höcker schreibt:

„Wer 2015/2016 all die Artikel über Flüchtlinge anzweifelte, die plötzlich ständig Geld gefunden und bei der Polizei abgegeben haben sollen, wurde als Nazi, Hetzer und Verschwörungstheoretiker beschimpft. Jetzt wissen wir: Einer der ersten dieser Artikel war möglicherweise lupenreine Lügenpresse. Ein trendsetzendes Werk des SPIEGEL-Autors Claas Relotius.“

In ein ähnliches Horn stößt Torsten Kalweit:

„Wer darauf hingewiesen hat, dass an mancher Story etwas nicht stimmen kann und/oder etwas dazugedichtet/weggelassen wurde, ist ansonsten immer gleich in eine bestimmte Ecke gestellt worden…“

Werner Miguel Kühn wiederum schreibt im Facebook-Kommentarbereich:

„Vielleicht es mal wieder mit objektivem, unparteiischem Journalismus versuchen? Dann ist man immun gegen Manipulation. Nur so ein Gedanke.“

Alois Weckenmann meint:

„Eine bessere Bestätigung für die Vorwürfe der AfD an die Medien dürfte es kaum geben. Künftig steht hinter jedem Artikel unsichtbar ein Fragezeichen.“

Häme gegen Trotz in den Kommentarspalten

Demgegenüber nehmen andere Nutzer den „Spiegel“ in Schutz und sehen rechte Kritik am inkriminierten Journalismus des Claas Relotius für problematischer an als dessen Authentizitätsengpässe selbst.

So schreibt Stefan Beer in den Facebook-Kommentaren:

„Lasst euch von den vielen negativen Kommentaren und rechten Trollen nicht unterkriegen! Alleine, dass ihr das so offensiv kommuniziert, gibt euch schon viel verlorenes Vertrauen zurück.“

Auch Martin Schultz bescheinigt dem „Spiegel“ einen vorbildlichen Umgang mit der Affäre:

„Guter Umgang mit einer Krise! Das wünscht man sich für die Zukunft auch in Unternehmen (z. B. Automobilindustrie) oder in der Politik (z. B. Verteidigungsministerium).“

Andere üben sich wiederum in Häme und Sarkasmus. So etwa Jan Tornado, der fragt:

„Ist keine Stelle bei Bento für ihn frei? Er würde da gut reinpassen.“

Ignaz Müllerchen sieht in dem Thema schon Stoff für eine mögliche Verfilmung:

„2020 im Kino! Mit Daniel Brühl als CR – und Veronika Ferres als ‚Hinrichtungsreisende‘.“

Ob der mit Relotius selbst solidarische Beitrag von Gerry Be ernstgemeint oder ebenfalls ironisch ist, bleibt offen:

„Er hat doch gut geschrieben und jedem hat es gefallen. Danke für die vielen schönen Berichte.“

Hagen Schaefer wiederum sieht im nunmehrigen „Spiegel“-Skandal das Symptom einer tiefergehenden Krise:

„Ich habe den SPIEGEL als Student geliebt. Haltungsjournalismus kam spätestens in 2010ern auf. Da ich realitätsverirrten Journalismus schon aus der DDR kannte, wurdet ihr für mich uninteressant. Gratismut lähmt den demokratischen Konsens. Ein gratismutiger, tendenziöser oder lobbyistischer Artikel versauen die gesamte Auflage. Ich glaube nicht, dass ihr Euch davon je wieder erholen werdet. In 10 Jahren geht ihr den gleichen Weg wie die TAZ. Andere Zeitungen werden Euren Platz einnehmen und Eure Journalisten werden aus purer Existenzangst die Seiten wechseln. So war das schon immer und so wird es immer bleiben. Beispiele gefällig?“

„Propagandaunternehmen und Pseudo-Aufklärungsportale verwässern Fakt und Narrativ“

Auch Jan-Philipp Hein – der sich selbst 2016 durch eine recht ambitionierte Theorie über die Kölner Silvesternacht bundesweit einen Namen gemacht hatte – sieht auf dem Blog der „Salonkolumnisten“ ein systemisches Versagen:

„Die Karriere des Reporters Claas Relotius wurde von einer Form von Journalismus ermöglicht, vielleicht sogar gemacht, die Fiktionen und Fakten miteinander vermischt und die Rolle des Erzählers über die des Rechercheurs stellt. Eine Form des Journalismus, die sich mit Reporterpreisen selbst feiert, die politische Aktivisten wie Michael Moore mit Dokumentarfilmern verwechselt und die es für eine besondere Leistung hält, den Nachrichtenkern von Enthüllungen wie den ‚Panama-Papers‘ unter Abertausenden von schön formulierten Sätzen zu vergraben. Fühlen, was sein könnte – statt sagen, was ist.

Der gesunde Menschenverstand gebietet es, dass die Branche aufmerksam, demütig und schonungslos der Frage nachgeht, ob der Fall Relotius einzigartig ist, oder ob da noch mehr schlummert unter der Oberfläche des Qualitätsjournalismus. Propagandaunternehmen und Pseudo-Aufklärungsportale von rechts bis links, die auf den Unterschied zwischen Nachricht und Meinung, zwischen Fakt und Narrativ pfeifen, gehören inzwischen ohnehin zum real existierenden Medienmix. Gerade in so einer Zeit muss die Grenze zwischen Literatur und Journalismus nicht dünner, sondern breiter werden.“

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.


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