Nach U-Ausschussbericht zu Breitscheidplatz-Attentat: Angehörige fordern Konsequenzen

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Todes-Lkw: Der von Anis Amri gekaperte Sattelschlepper nach dem Anschlag.Foto: Michael Kappeler/dpa/dpa
Epoch Times24. Juni 2021

Die Sprecherin der Opfer und Hinterbliebenen des Anschlags auf dem Berliner Breitscheidplatz, Astrid Passin, fordert nach dem Abschluss der Arbeit des Bundestags-Untersuchungsausschusses und der Debatte im Bundestag am Donnerstag Konsequenzen.

Das sagte sie dem „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ (Freitagausgaben). „Nachdem die Fraktionen ihre Kritik zum Ausdruck gebracht haben, stellt sich die Frage, was die Regierenden tun, wenn sie von so einer Vielzahl an Fehlern hören“, sagte sie.

„Wir wollen wissen, welche Konsequenzen aus dem Fehlverhalten mancher Sicherheitsbehörden und der mangelnden Kooperation zwischen ihnen gezogen werden und wie man künftig damit umgeht.“ Man könne nicht verhindern, dass Menschen Anschläge begehen wollen. „Aber man kann die Gefahr verringern, dass es dazu kommt.“

Sie beklagte außerdem, dass die Opfer zu spät in die Ausschussarbeit einbezogen worden seien. „Dieser Tag ist ein ganz besonderer Tag – auch dass wir hier sein und im Bundestag unser Fazit mitteilen dürfen“, sagte Passin dem RND. Das sei eine gute Intention. „Sie kommt nur leider drei Jahre zu spät. Wir wären gern vorher einbezogen worden, um dem Untersuchungsausschuss unsere Bedürfnisse und unsere Forderungen klarzumachen.“

Sie verlor bei dem Anschlag ihren Vater. Der Bundestag debattierte am Donnerstag eine Stunde lang in Anwesenheit von laut Passin etwa 50 Angehörigen und Hinterbliebenen über den Abschlussbericht des Ausschusses. Anschließend trafen sich die Hinterbliebenen mit den Parlamentariern.

Schäuble: „Der Attentäter wollte unsere Art, in Freiheit zu leben, zerstören“

Zuvor erklärte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, dass sich das Attentat auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz „in unser Gedächtnis eingegraben“. „Zum einen, weil so viele unschuldige Menschen ihr Leben verloren haben, so viele verletzt oder traumatisiert wurden. Und zum anderen, weil die Absicht so anmaßend war: Der Attentäter wollte unsere Art, in Freiheit zu leben, zerstören. Unfrieden stiften, kurz vor Weihnachten.“

Der Anschlag habe viele Fragen aufgeworfen, so der Bundestagspräsident, der sich im Anschluss an die Aussprache mit den Hinterbliebenen und Betroffenen zum persönlichen Austausch traf. Die schmerzlichste Frage aber laute: „Warum ist es damals nicht gelungen, den Anschlag zu verhindern? Obwohl der Täter den Sicherheitsbehörden als gefährlich bekannt war?“

Klaus-Dieter Gröhler (CDU/CSU) Vorsitzender des Untersuchungsausschuss erklärte der Bericht sei der Ausfluss von 132 Sitzungen mit 462 Stunden, 147 Zeugenvernehmungen und der Durchsicht Tausender Aktenordner. Einige Fragen rund um den Anschlag von 2016 hätten nicht beantwortet werden können – etwa die zur Flucht des Attentäters Anis Amri oder nach der Herkunft seiner Schusswaffe. Der Abschlussbericht des 1. Untersuchungsausschuss „Breitscheidplatz“ umfasst 1.900 Seiten.

Es habe individuelle Versäumnisse und Fehlentscheidungen der Sicherheitsbehörden gegeben: „Alle zusammen waren fatal“. Trauriges Ergebnis der Ausschuss-Untersuchungen sei, dass die mörderische Tat hätte verhindert werden können. Die Arbeit habe auch zum Ziel gehabt, darauf hinzuwirken, dass sich ein vergleichbares Geschehen nicht wiederholen könne.

AfD: Amri kein Einzeltäter

Stefan Keuter (AfD) beklagte sich über Hindernisse, mit denen es der Untersuchungsausschuss bei seiner Arbeit zu tun gehabt habe. Hinsichtlich der Schuldfrage sei für ihn klar, dass Amri kein Einzeltäter gewesen sei.

Dass er den Anschlag beging, hätte verhindert werden können. So sei die Politik der offenen Grenzen ein Fehler gewesen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) habe ihr Versprechen nach Aufklärung nicht eingehalten. Deswegen solle sie sich schämen.

Dr. Fritz Felgentreu (SPD) sprach von verbliebenen Unklarheiten im Detail, aber nicht im Gesamtergebnis. Er verwies auf die Migranten-Situation in den Jahren 2015 und 2016, die Amris Vorgehen begünstigt hätten. Die betroffenen Behörden seien personell überbelastet gewesen, wobei klar gewesen sei, dass sich unter den Flüchtlingen wohl auch Terroristen befänden.

Widerlegt sei die These, dass es sich bei Amri um einen reinen Polizeifall gehandelt und der Verfassungsschutz nicht involviert gewesen sei. Es sei bewiesen worden, dass er in ein islamistisches Netzwerk eingebunden gewesen sei. Felgentreu gab sich überzeugt: „Viele Schwächen, die Amri ausgenutzt hat, sind inzwischen behoben.“

FDP: Aufklärung mit angezogener Handbremse

Benjamin Strasser (FDP) hob auf das Versprechen der Bundeskanzlerin nach umfassender Aufklärung und von Innenminister Horst Seehofer (CSU) nach maximaler Transparenz ab: Tatsächlich sei es zu einer Aufklärung mit angezogener Handbremse – etwa stark geschwärzte Akten – gekommen: „Wir konnten nicht alle Steine umdrehen.“

Er sprach von einem systematischen Versagen der deutschen Sicherheitsbehörden. Noch immer sei Deutschland auf vergleichbare Terroranschläge nicht hinreichend vorbereitet. Er regte an, den 13. März jedes Jahres nach dem Vorbild von Frankreich und Spanien zu einem nationalen Gedenktag für die Opfer terroristischer Gewalt zu machen.

Martina Renner (Die Linke) stellte fest, Amri habe nicht allein gehandelt, sondern sei ideologisch geschult und logistisch unterstützt worden. Wer trotz europaweiter Vernetzung von Terroristen an der Fiktion von Amri als Einzeltäter festhalte, der werde weitere Anschläge nicht verhindern können.

Linke: Ausschusskollegen haben die Aufklärungsarbeit behindert

Sie warf Ausschusskollegen vor, die Aufklärungsarbeit behindert zu haben: „Auf welcher Seite steht ihr?“ Renner verlangte eine bessere parlamentarische Kontrolle der Sicherheitsbehörden. Überdies müssten die Rechte der Opfer und die Rechte der Untersuchungsausschüsse weiter verbessert werden.

Grüne: Bundessicherheitsbehörden tragen Verantwortung

Für Dr. Irene Mihalic (Bündnis 90/Die Grünen) tragen die Bundessicherheitsbehörden einen großen Teil der Verantwortung. Nach ihrer Meinung hätte der Anschlag verhindert werden können, wenn man im gemeinsamen Terrorabwehrzentrum die Gefährlichkeit Amris richtig eingeschätzt hätte. Es habe Hinweise gegeben, dass er Anschläge plane. Doch die seien nicht hinreichend analysiert worden.

Amri sei kein Einzeltäter und kein Kleinkrimineller gewesen, sondern eingebunden in das dschihadistische Netzwerk bis hin zum IS. Dass mögliche Mitwisser und Unterstützer oder Mittäter immer noch freiem Fuß sein könnten, stufte sie als relevante Gefahr ein. Das Bundeskriminalamt habe darauf hingearbeitet, die These vom Einzeltäter zu bestätigen – „ganz nach dem Motto, der Täter ist tot, der Fall ist gelöst“.

Bericht: Individuelle Fehleinschätzungen und Versäumnisse wie auch strukturelle Probleme

Der Ausschuss selbst hat nach eigenen Angaben die Überzeugung gewonnen, dass sowohl individuelle Fehleinschätzungen und Versäumnisse wie auch strukturelle Probleme in den zuständigen Behörden verantwortlich waren: die mit den Herausforderungen nicht Schritt haltenden Ressourcen der für islamistische Gefährder zuständigen Einheiten der Sicherheitsbehörden, die völlige Überlastung aller mit Geflüchteten befassten Stellen im Sommer und Herbst 2015, die Zersplitterung staatsanwaltschaftlicher Zuständigkeiten auch bei als Gefährder eingestuften Tatverdächtigen sowie Mängel beim Informationsaustausch und der Koordination des Vorgehens zwischen Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum GTAZ.

In einem Sondervotum von FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen heißt es, die von den politisch Verantwortlichen nach dem 19. Dezember 2016 vertretene These des selbst radikalisierten „Einzeltäters“ Anis Amri sei nach dreieinhalb Jahren Aufklärungsarbeit im Untersuchungsausschuss klar widerlegt.

Amri sei gerade nicht der „klassische“ Einzeltäter gewesen, der sich selbst radikalisierte und im Verborgenen einen Anschlag plante. Stattdessen habe er viele Monate lang unter den Augen verschiedener Sicherheitsbehörden agiert. Diese hätten ihn observierten, sein Umfeld infiltriert, V-Leute an ihn herangespielt sowie seine komplette digitale Kommunikation teilweise in Echtzeit mitverfolgt. Mindestens eine der V-Personen in seinem Umfeld habe regelmäßig über Amris Umtriebe und Anschlagsplanungen und mit dramatischen Appellen vor seiner Gefährlichkeit gewarnt.

2015 als illegaler Migrant über Italien nach Deutschland gekommen

Anis Amri, ein abgelehnter Asylbewerber aus Tunesien, erschoss am 19. Dezember 2016 mit der Pistole einen polnischen Lastwagenfahrer. Mit dessen Fahrzeug raste er dann über den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz, wo er weitere elf Menschen tötete und Dutzende verletzte. Anschließend gelang dem Anhänger der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) die Flucht nach Italien, wo er bei einer Kontrolle von der Polizei erschossen wurde. Von Tunesien kam er im Juli 2015 als illegaler Migrant nach Italien und dann über die Schweiz nach Deutschland. (dts/er)



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