Virologe Prof. Streeck: Entwarnung bei Corona, „wirkliche Aufarbeitung“ fehlt noch

Der Bonner Virologe Prof. Hendrik Streeck hat sich erneut für eine konstruktive Aufarbeitung der Corona-Krise ausgesprochen. Besonders den Umgang mit Ungeimpften bedauere er sehr. Heute müsse man sich wegen Corona keine Sorgen mehr machen.
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Der Virologe Prof. Hendrik Streeck bedauert die mangelnde Aufarbeitungsbereitschaft zur Corona-Krise in Deutschland.Foto: Andreas Rentz/Getty Images
Von 11. Oktober 2023

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Prof. Dr. Hendrik Streeck gehört zu den prominentesten Gesichtern der Corona-Krise: Unzählige Male war die Expertise des Bonner Virologen in TV-Talkshows oder Kurzreportagen gefragt. Nun hat er in der „Fuldaer Zeitung“ (FZ) Entwarnung für den kommenden Winter gegeben: Wegen Corona braucht man sich „auf gar keinen Fall“ mehr Sorgen machen.

Auch staatliche Maßnahmen müsse es nicht mehr geben: „Wir sind in einer Phase angekommen, wo jeder für sich selbst oder mit seinem Arzt entscheiden muss, was das Beste ist“, empfahl der Wissenschaftler. Ähnlich hatte er sich bereits Anfang des Jahres geäußert.

„Enorm hohe Grundimmunität“

Jahreszeitlich bedingt sei es normal, dass nun „grippale Infekte“ wieder vermehrt vorkämen, stellte Streeck klar. „Zu diesen Erkrankungen“ habe sich Corona „eingereiht“, es gebe „keine Sonderstellung im Vergleich zur Grippe mehr“. Streeck weiter:

Wir haben eine enorm hohe Grundimmunität in der Bevölkerung, die auch nicht weggeht.“

Auch mit einer erhöhten Anfälligkeit müsse man nicht mehr rechnen, nur weil das Immunsystem durch Masken und Kontaktbeschränkungen lange Zeit nicht gut trainiert worden war: „Als wir im letzten Sommer die Masken weggelassen haben, haben wir ja eine relativ starke Infektionswelle auch bei Kindern gesehen. Seitdem hat sich das wieder eingependelt“, erklärte der Virologe im FZ-Interview.

Derzeit gebe es auch keinen Grund, sich vor Mutationen des Virus zu fürchten. Noch immer finde man lediglich „Subvarianten von Omikron“, wie man sie „bereits im vergangenen Jahr“ beobachtet habe. „So ein Virus versucht natürlich immer, sich so zu verändern, dass es den Immunantworten entkommt“, erklärte Streeck. „Dadurch gibt es Veränderungen in der Oberfläche des Virus. Aber wir sehen keine grundlegende Veränderung.“

Keine Impfempfehlung für alle

Zum Thema COVID-19-Impfung vertritt Streeck eine differenzierte Meinung: Er selbst, Jahrgang 1977, würde sich „gar nicht mehr“ gegen das Coronavirus impfen lassen. Menschen, die über 60 seien oder an einer Grunderkrankung litten, trügen allerdings „ein Risiko für einen schweren Verlauf“. Deshalb sollten sie seiner Meinung nach mit ihrem „Hausarzt über die Auffrischungsimpfung mit den angepassten Vakzinen sprechen“, empfahl Streeck. Bei der Gelegenheit solle man „am besten“ auch die Grippeimpfung thematisieren.

Streeck gab zu bedenken, dass die „Effektivität“ der Impfstoffanpassungen „nur im Labor untersucht“ worden seien. Man könne aber trotzdem „davon ausgehen, dass sie wirken“. Generell bedeute die mRNA-Technologie „für die Impfforschung einen enormen Schritt nach vorne“.

Falsche Versprechungen, viele Fragen, kaum gute Antworten

Streeck kritisierte allerdings die falschen Versprechungen, die mit Beginn der Impfkampagnen seit dem Jahresende 2020 über die mRNA-Impfstoffe gemacht worden waren. Heute wisse man, dass sie keinen Langzeitschutz böten und auch nicht nebenwirkungsfrei seien, sondern nur „sehr gut vor einem schweren Verlauf“ schützten. Dass andere Aussagen gemacht worden seien, habe „letztlich der Sache geschadet“.

Ein „Kardinalfehler“ sei zudem gewesen, „bestimmte Prozesse nicht wissenschaftlich begleitet [zu] haben“. Als Beispiele nannte Streeck die Wirksamkeit von Masken und Schulschließungen. „So stehen wir am Ende mit vielen Fragen da, ohne wirklich eine gute Antwort zu haben.“

Manch einer aber habe wohl Angst vor einer „Abrechnung“. „Ich denke, ein Teil der Gesellschaft würde sich Aufarbeitung wünschen, der andere aber will ganz einfach die Pandemie schnell vergessen“, so Streeck. Ihm selbst gehe es allerdings „überhaupt nicht um Anklage“, sondern darum, zu „definieren, was wir das nächste Mal besser machen sollten“. Dass eine solche „Fehlerkultur“ in der Politik „verlernt“ worden sei, werde „in der Vorbereitung auf die nächste Pandemie natürlich hinderlich sein“, sagte Streeck voraus:

Stattdessen erleben wir, dass im Nachhinein Modellierungsstudien gemacht werden mit dem Ergebnis, es sei alles wunderbar gewesen. Das ist Schönfärberei und hilft uns nicht wirklich bei der Vorbereitung auf die Zukunft.“

Ungeimpfte als Sündenbock: „Dasselbe könnte wieder geschehen“

Er „bedauere wirklich sehr“, dass in Deutschland „keine wirkliche Aufarbeitung“ der Fehler aus der Corona-Zeit existiere, und wenn, dann höchstens auf Länderebene.

Er selbst plädiere „dringend“ für Untersuchungsausschüsse oder Enquete-Kommissionen auf Bundesebene, „auch um die Spaltung der Gesellschaft zu überwinden und wieder Vertrauen in die staatlichen Institutionen herzustellen“. Speziell was den Umgang mit ungeimpften Menschen angehe, „die fast wie Aussätzige behandelt wurden“, bedürfe es der Rückschau:

Im Nachhinein muss ich sagen: Man hätte noch viel vehementer sein müssen, dass wir so nicht mit anderen Bürgern unseres Landes umgehen können.“

Nun, da „wir nicht lernen und nicht darüber reden“, bestehe die Gefahr, dass dasselbe wieder geschehen könnte, mahnte der Wissenschaftler. Dabei stünden noch immer „soziologische, psychologische, ja sogar philosophische Fragen“ im Raum, „die unmöglich aus dem Labor beantwortet werden können“. Streeck erinnerte daran, dass „Wissenschaft ideologisiert“ und „Bundestagsreden geschwungen“ worden seien, in denen man Ungeimpften die Schuld für Tanzverbote oder die verlorene Jugend junger Menschen gegeben habe. „Dabei wusste man zu diesem Zeitpunkt schon, dass das faktisch falsch ist“, kritisierte Streeck.

Aufarbeitung ohne Anklage?

Für den Journalisten und Autor Marcus Klöckner funktioniert Aufarbeitung nicht ohne Anklage. In einer Replik auf Hendrik Streeck schreibt er:

Was soll eine Aufarbeitung, die den Namen verdient, darstellen, wenn sie sich vor einer Abrechnung und Anklage drückt? Über diese Art der Aufarbeitung könnte man sprechen, wenn die Grundprämisse, die offensichtlich hinter dieser Haltung steht, stimmen würde, nämlich: Alle Verantwortlichen haben im Wesentlichen nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt.“

In seinem Kommentar macht Klöckner deutlich, dass davon nicht auszugehen ist.

Menschen und Initiativen, die sich für eine Aufarbeitung der Fehler und Versäumnisse der Corona-Zeit starkmachen, sind zahlreich. Bislang haben ihre Stimmen keinen durchschlagenden Erfolg.

Der Berliner Hausarzt Erich Freisleben etwa forderte nach Informationen der „Berliner Zeitung“ vor einem Monat „eine offene Debatte über die Corona-Impfstoffe“, insbesondere was die Rolle von Politik, Medien und der Pharmaindustrie angehe. Ähnlich sieht es der Heidelberger Arzt Dr. Gunter Frank: Er ist zurzeit auf Vortragsreise in Deutschland unterwegs.

Ebenfalls erst vor wenigen Wochen kritisierte das Netzwerk Evidenzbasierte Medizin die abschließende „StopptCOVID“-Studie des Robert Koch-Instituts (PDF) als wenig aussagekräftige, „hauseigene RKI-Schrift“ mit diversen methodischen Fehlern: „In der Gesamtschau handelt es sich um einen geradezu erstaunlichen Bericht, der sich weit entfernt von den gültigen wissenschaftskulturellen Standards und den Kriterien der evidenzbasierten Medizin bewegt“ (PDF). Das Netzwerk Evidenzbasierte Medizin fordert eine Pandemieaufarbeitung „auf Basis eines hochwertigen, breit konsentierten Protokolls“.

Zuvor hatte die Initiative Ärztinnen und Ärzte für individuelle Impfentscheidung ein Positionspapier vorgelegt, das besonders die Impfpolitik der Bundesregierung infrage stellte.

Der Freiburger Kinderchirurg Prof. Klaus-Dieter Rückauer fordert als Fazit seiner Drei-Jahres-Analyse „Corona – Legenden und Wahrheit“ gar einen „Prozess wie den damaligen von Nürnberg“ für jene Verantwortlichen, die sich während der Krise wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ schuldig gemacht haben.

Auch außerhalb der Medizin wollen manche Menschen nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, zum Beispiel beim Verein MWGFD, beim ZAAVV oder auf Websites wie Wir-vergessen-nicht.com. Einige weitere Beispiele: Das bundesweite, regierungskritische wir-gemeinsam-Bündnis etwa hatte rechtzeitig zu den Landtagswahlen in Bayern und Hessen eine Kampagne gestartet: „Aufarbeitung Jetzt“. Dort heißt es unter anderem:

In keinem deutschen Parlament sollte irgendjemand sitzen, der die Eskalation in den Jahren 2021 und 2022 gestützt hat. Man konnte spätestens in dieser Zeit alles wissen. Es lag alles auf dem Tisch. […] Wer mit dem Wissen von heute noch immer behauptet, dies alles sei alternativlos gewesen, ist unwählbar.“

Der Fotograf und Filmemacher Kai Stuht stellte in einem Dokumentarfilm die Gretchenfrage über das Verhalten der Mediziner in den vergangenen dreieinhalb Jahren: „Können 100 Ärzte lügen?“

Auch der Rechtsanwalt Sebastian Lucenti erhob im Frühjahr 2023 schwere Vorwürfe gegen Teile der deutschen Legislative, Exekutive und Judikative: Seine beiden Corona-Artikel für die „Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht“ lesen sich fast wie eine Anklageschrift.

Öffentlich-rechtliche Medien blocken fast ausnahmslos ab

In den öffentlich-rechtlichen Medienhäusern, die für Millionen Menschen der Orientierungsmaßstab der Krise waren oder noch sind, ist nach wie vor wenig Interesse an einer flächendeckenden Aufarbeitung vorhanden.

Lediglich Tim Herden, der Direktor des mdr-Landesfunkhauses Sachsen-Anhalt, räumte im Frühjahr 2023 in der Talksendung „Fakt ist!“ Versäumnisse und Fehler in der Corona-Berichterstattung seines Hauses ein: Der Sender habe die „Impfung falsch verkauft als eine Art Wundermittel“, man hätte „mehr hinterfragen müssen“ und „mehr Vielfalt […] in der wissenschaftlichen Expertise“ abbilden müssen, gab Herden zu (Video auf YouTube).

ARD-Chef Kai Gniffke aber lehnt einen „runden Tisch“ zur Corona-Aufarbeitung, bei dem auch Experten mit abweichenden Meinungen zu Wort kommen könnten, nach wie vor strikt ab.

Der frühere ZDF-Nachrichtenredakteur Peter Hahne hat übrigens längst die Geduld verloren. Angesichts all der Verfehlungen, denen sich Verantwortungsträger aus seiner Sicht schuldig gemacht haben, fordert er immer wieder juristische Konsequenzen: „Ich will Handschellen klicken hören.“



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