Wahl in Berlin ungültig – „Einmaliger Vorgang in der Geschichte der Bundesrepublik“

Der Landesverfassungsgerichtshof von Berlin erklärte die Berlin-Wahlen im September 2021 für ungültig. „Es handelt sich um einen einmaligen Vorgang in der Geschichte der Bundesrepublik“, so die Gerichtspräsidentin.
Von 17. November 2022

Der Berliner Verfassungsgerichtshof hat die Wahlen zum 19. Abgeordnetenhaus und zu den zwölf Bezirksverordnetenversammlungen vom 26. September 2021 insgesamt für ungültig erklärt.

Die Entscheidung ist mit einer Mehrheit von 7 zu 2 Richterstimmen getroffen worden. „Es handelt sich dabei um einen einmaligen Vorgang in der Geschichte der Wahlen in der Bundesrepublik“, so die Gerichtspräsidentin Ludgera Selting. Sie spricht zudem von „schweren systemischen Mängeln bei der Vorbereitung der Wahlen.“

Nur durch die vollständige Wiederholung der Wahl könne eine Zusammensetzung der beiden Gremien gewährleistet werden, die den verfassungsrechtlichen Anforderungen an demokratische Wahlen entspreche.

„Schon die Vorbereitung der Wahlen stellt für sich genommen einen Wahlfehler dar.“ Diese Vorbereitungsmängel wären die Ursache dafür gewesen, dass es am Wahltag zu weiteren Wahlfehlern gekommen sei, führt sie weiter aus.

Damit wurde nach Ansicht des Gerichtes in mehrfacher Hinsicht gegen die in der Berliner Verfassung niedergelegten Wahlgrundsätze verstoßen. Zudem waren die Wahlfehler, laut Gericht, mandatsrelevant.

20.000 bis 30.000 Stimmen bei Wahl von Fehlern betroffen

Aus den Berechnungen des Gerichtes geht hervor, dass mindestens 20.000 bis 30.000 Stimmen von Wahlfehlern betroffen wären. „In einigen Wahlkreisen hätten schon dreistellige Zahlen anders abgegebener Stimmen ausgereicht, um die Sitzverteilung zu verändern“, so das Gericht.

Nach den ermittelten Zahlen wären alle Zweitstimmen (derzeit 69 Sitze im Abgeordnetenhaus) sowie ein substantieller Teil der Erststimmen (mindestens weitere 19 Sitze) und damit insgesamt 88 von 147 Sitzen von mandatsrelevanten Wahlfehlern betroffen. Das sind rund 60 Prozent aller Sitze.

Für das Wahlprüfungsverfahren wählte das Gericht von den über 1.000 Einspruchstellern vier aus, die exemplarisch für die Gesamtheit der Einspruchsteller stehen sollten. Das waren die Einsprüche der Landeswahlleitung, der Senatsinnenverwaltung, der AfD und der Die PARTEI. Von den vier ausgewählten Einspruchstellern war die AfD die einzige, die eine komplette Wahlwiederholung forderte.

Verfassungsgericht wertete 2.256 Wahlprotokolle aus

Im Rahmen des Wahlprüfungsverfahrens wertete das Gericht alle 2.256 Protokolle aus sämtlichen Berliner Wahllokalen aus. Zusätzlich nutzte es alle von der Landeswahlleitung zur Verfügung gestellten Daten. Schließlich prüfte es die rund hundert Schriftsätze der insgesamt über 3.000 Verfahrensbeteiligten.

Aufgrund der geprüften Daten steht für das Gericht fest, dass nicht nur einzelne, sondern tausende Wahlberechtigte am Wahltag in Berlin ihre Stimme nicht, nicht wirksam, nur unter unzumutbaren Bedingungen oder nicht unbeeinflusst abgeben konnten. „Damit sind die in der Verfassung des Landes Berlin festgelegten Grundsätze der Freiheit, der Allgemeinheit und der Gleichheit der Wahl verletzt“, befindet das Gericht.

Die Schuld für die unzureichende Vorbereitung der Wahlen sieht das Gericht beim Land Berlin und seinen Behörden liegen.

Die Ursache für die Wahlfehler liegt in einem Organisationsverschulden der für die Wahlen zuständigen Behörden des Landes Berlin.“

Gemäß dem Landeswahlgesetz müssen die Wahlen nun innerhalb von 90 Tagen in ganz Berlin wiederholt werden.

AfD-Fraktionsvorsitzende: „Hoffe, dass damaliger Innensenator Geisel seinen Hut nehmen muss“

Die Berliner AfD-Fraktionsvorsitzende Dr. Kristin Brinker hat das Urteil erwartet, jedoch nicht so klar und deutlich, wie es letztendlich gefallen sei.

„Ich freue mich natürlich, dass das Gericht unserem Antrag gefolgt ist, und dass wir jetzt eine vollständige Wahlwiederholung in Berlin haben werden.“ Andererseits sei es beschämend, dass die zuständigen Senatsverwaltungen, die eigentlich die Wahl hätten gut organisieren sollen, vor Gericht noch mal ordentlich abgewatscht worden sind.

„Das war schon eine sehr, sehr deutliche Sprache, die das Gericht hier gesprochen hat.“ Sie hofft, dass die politische Verwaltung jetzt die Verantwortung trägt und der damalige Innensenator Andreas Geisel (SPD) seinen Hut nehmen muss. „Er hat das letztlich zu verantworten.“

Von der neuen Wahl erhofft sie sich, „ein deutlich besseres Ergebnis als bei der letzten Wahl, nämlich zweistellig“. Alle Umfragen würden auch dahin tendieren. „Es wird jetzt ein kurzer, harter Wahlkampf im Winter. Aber ich freue mich schon darauf.“

FDP-Geschäftsführer: „Ein historisches Urteil“

Für Björn Matthias Jotzo, Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, ist es „in jedem Fall ein historisches Urteil.“ Nicht, weil es eine juristische Ausnahmeentscheidung sei.

Sondern, weil die Fehler bei dieser Wahl so außergewöhnlich waren, dass sie in der Historie der Bundesrepublik einmalig sind.“

„Und das ist eigentlich das Herausragende an dieser Entscheidung“, so Jotzo.

Das Gericht habe deutlich gemacht, dass die Verantwortung bei den Behörden, also der Landeswahlleitung liege. Letztendlich trage der Berliner Senat die Verantwortung für diese Entwicklung. „Denn die Dysfunktionalität der Berliner Verwaltung, die organisierte Verantwortungslosigkeit auf Landes- und auf Bezirksebene, waren die Ursache für dieses Wahlchaos.“ Das Gericht habe deshalb auch ganz klar die Verantwortung diesem rot-rot-grünen Senat zugewiesen.

Wir gehen davon aus, dass die Bürger bei der Wiederholungswahl dann auch die Schlüsse daraus ziehen werden und sich überlegen werden, ob sie sich bei der letzten Wahl möglicherweise falsch entschieden haben.“

Die FDP sei mit 7 Prozent in den Berliner Umfragen momentan sehr stabil. „Da freuen wir uns sehr, zumal wir ja auf Bundesebene etwas Schwierigkeiten haben.“

Berliner Landeswahlleiter wenig überrascht vom Urteil zur Wahl

Der neue Berliner Landeswahlleiter, Prof. Dr. Stephan Bröchler, der seit 1. Oktober für die Planung und Durchführung der Wahlen in Berlin zuständig ist, zeigt sich wenig überrascht vom Urteil. „In der Anhörung hat das Verfassungsgericht ja schon im Grunde die großen Linien vorgegeben.  Dementsprechend haben wir uns als Landeswahlleitung auch schon darauf vorbereitet, sodass wir mit den eigentlichen Wahlvorbereitungen jetzt starten können.“

Er war Mitglied in der Expertenkommission, die eingesetzt wurde. „Da haben wir schon eine wesentliche Fehleranalyse gemacht.“ Viele der Punkte, die das Verfassungsgericht jetzt formuliert habe, waren auch Handlungsempfehlungen der Expertenkommission. „Ich wäre von einer teilweisen Wahlwiederholung ausgegangen.“

Er argumentiert: Eine Neuwahl der Bezirksverordnetenversammlung würde sehr teuer werden, da sich die Bezirksregierungen dann auch möglicherweise ändern würden. Ein anderer Aspekt wären die langen Warteschlangen. „Da hätten wir uns gerne noch ein paar genauere Informationen gewünscht.“ Seiner privaten Meinung nach hätte er sie nicht als so bedeutend interpretiert.

Auf der anderen Seite habe das Gericht sehr plausibel argumentiert und seine Gründe dargelegt. „Ich kann auch als Landeswahlleiter jetzt gut damit arbeiten, weil auch wichtige Hinweise formuliert worden sind.“ Zum Beispiel habe es wichtige Hinweise zu den Warteschlangen oder den Stimmzetteln gegeben. „Das sind alles Punkte, die wir versuchen, bei der Wahlwiederholung besser zu organisieren.“

Für ihn war die Berliner Wahl 2021 kein systemisches Totalversagen. „Aber es sind schwere systemische Fehler passiert, die in der Summe so gravierend waren, dass sich eine vollständige Wahlwiederholung legitimieren lässt.“

Jurist: Urteil wird über den Berliner Raum hinaus Signalwirkung haben

Für Uwe Wolfgang Kasper, der als führender Rechtsanwalt den Einspruch der Berliner AfD vertrat, war auffallend, dass die Entscheidung des Gerichtes nicht einstimmig ergangen ist.

Zwei der Richter stimmten gegen das Urteil. Auch sei das Berliner Verfassungsgericht in einigen Punkten neue Wege gegangen, die von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts so nicht vorgezeichnet gewesen wären. Als Beispiel nennt er die Interpretation der Mandatsrelevanz.

Er geht davon aus, dass das Urteil über den Berliner Raum hinaus Signalwirkung für das Wahlprüfungsrecht haben wird, und dass es zu einer gewissen Veränderung in Deutschland führt. „Jetzt beginnt die rechtswissenschaftliche Analyse dieses Urteils.“ Man werde sich damit befassen, inwieweit dieses Urteil von anderen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts oder anderer Landesverfassungsgerichte abweiche. „Das wird eine gegenseitige Befruchtung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit sich bringen.“

Das Gericht habe bei der Urteilsbegründung ausgeführt, dass die Einstufigkeit der Wahlprüfung in Berlin bundesweit einzigartig sei. „Das gibt es nur in Berlin, in keinem anderen Bundesland und auch nicht im Bund“, so der Jurist.

In den anderen Bundesländern und bei Bundeswahlen ist im Wahlprüfungsverfahren das Parlament die erste Instanz und dann kommen die Richter. In Berlin entscheidet das Gericht allein.

Man kann sich leicht vorstellen, dass die Abgeordneten keine große Lust haben, ihr Wahlergebnis infrage stellen zu lassen.“

Dann würden die Dinge eben oft sehr eingeschränkt gesehen oder sogar auf die lange Bank geschoben, erklärt der Rechtsanwalt.

Dieser Grundsatz, dass das Parlament eine eigene Wahlprüfung durchführe, sei eigentlich ein Anachronismus. Er hätte im 19. Jahrhundert seinen guten Sinn gehabt. Jetzt wäre es sinnvoller, dass man Gerichten die Wahlprüfung überlässt. „Denn sie haben dabei kein persönliches Interesse und können objektiv und nur am Maßstab des Rechts urteilen.“



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