Ein Jahr Bürgergeld – Hubertus Heil sieht den „sozialen Zusammenhalt“ gestärkt – Wähler skeptisch

Obwohl etliche Stimmen aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft bezweifeln, dass die Erhöhung des Bürgergelds mehr Menschen in Lohn und Brot bringen wird, verteidigt Bundesarbeitsminister Hubertus Heil die Idee.
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Bundesarbeitsminister Hubertus Heil.Foto: JOHN MACDOUGALL/AFP via Getty Images
Von 28. Dezember 2023

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hat nach einem knappen Jahr ein positives Zwischenfazit zum Thema Bürgergeld gezogen. Die neu justierte Sozialleistung nehme den Menschen Ängste, biete „zuverlässig soziale Sicherheit“, fördere Potenziale, setze auf Qualifizierung und habe den „sozialen Zusammenhalt“ gestärkt, hieß es in einem Gastbeitrag Heils für die Zeitschrift „Landkreis“, dem Organ des Deutschen Landkreistages. Überhaupt schaffe das Bürgergeld „Sicherheit in turbulenten Zeiten“.

Heil hatte unter anderem geschrieben, dass das „Bürgergeld-Gesetz die Erfahrung“ verstärke, „dass es sich auch finanziell lohnt, eine Arbeit aufzunehmen oder mehr Stunden pro Woche zu arbeiten“. Der Text war Mitte Dezember auch im Onlineportal für die Jobcenter-Praxis, „SGB2.info“ erschienen.

Knackpunkt Lohnabstandsgebot

Jan Klauth, Wirtschafts- und Finanzredakteur bei der „Welt“, hegt offenbar Zweifel an den Worten des Ministers. So habe eine bisher nicht veröffentlichte Studie des ifo Instituts und des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) Anfang Dezember ergeben, dass sich „die Kombination aus verschiedenen Sozialleistungen“ finanziell kontraproduktiv für die Empfänger auswirken könne: Immer mehr zu arbeiten, bedeute immer höhere Abzüge, „in einigen Konstellationen sogar mehr als [die Lohnempfänger] hinzuverdient haben“.

Das Gutachten sei vom Arbeitsministerium selbst in Auftrag gegeben worden, um die Wirkungsweise des Bürgergelds wissenschaftlich abschätzen zu können. Nach Informationen des „Münchener Merkur“ habe der ifo-Ökonom Andreas Peichl vorgeschlagen, im Fall der Erwerbstätigkeit eines Empfängers besser „weniger Sozialleistungen“ zu streichen, um einen Arbeitnehmer auf jeden Fall finanziell besserzustellen als einen Nicht-Erwerbstätigen.

Landkreistag sieht „ungute Schieflage“

Nach Recherchen des „Welt“-Autors hatte auch die Juristin Irene Vorholz, Beigeordnete des Deutschen Landkreistages, in ihrem Artikel für den „Landkreis“ festgestellt, dass das Bürgergeld die „Leistungsvoraussetzungen“ aus dem Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II) aufweiche, Arbeitsanreize reduziere und die Attraktivität des Leistungsbezugs steigere.

Allein durch die Erhöhung des Regelsatzes entstehe „für die erwerbstätige Bevölkerung […] so eine ungute Schieflage“, mahnte Irene Vorholz. Die Erhöhung des Bürgergeld-Regelsatzes um zwölf Prozent lasse sich mit dem „Lohnabstandsgebot“ nicht vereinbaren. „Erste Einschätzungen“ deuteten zudem darauf hin, dass „die Vermittlung bei steigenden Ausgaben nicht besser als vorher“ gelinge.

Umfragen: Wähler sehen Bürgergeld kritisch

In dieselbe Kerbe hatte schon das Meinungsbarometer des „Mitteldeutschen Rundfunks“ (MDR) von Anfang November geschlagen. Demnach habe eine Mehrheit von über 27.000 befragten Personen die Erhöhung des Regelsatzes „skeptisch“ gesehen: Sie befürchteten, dass „der Abstand zum Niedriglohnsektor“ zu gering sei.

Auch eine Forsa-Umfrage im Auftrag des „Stern“ hatte Mitte November ergeben, dass eine knappe Zweidrittelmehrheit im Bürgergeld einen Anreiz erkennt, „keine reguläre Arbeit aufzunehmen“. Nur die Grünen-Anhänger hätten das mehrheitlich anders gesehen.

Wirtschaftsverband plädiert für höheren Erwerbsfreibetrag

Michael Hüther, der Chef des arbeitgebernahen „Instituts der Deutschen Wirtschaft“ (IW), habe angesichts der Bürgergeld-Gesetze von einem „Fehler im System“ gesprochen, heißt es in der „Welt“. „Mehrarbeit im Niedriglohnsektor“ lohne sich häufig nicht. Der „Wechsel von Teil- zu Vollzeit“ bedeute „oft weniger Netto“.

In der Industrie seien die „Spielräume“ für Lohnerhöhungen aber „eng“. Vielmehr sei „eine Zurückhaltung in den Tarifverhandlungen“ angebracht, so Hüther gegenüber dem „Focus“. Um die knappen Kassen der Bürgergeldempfänger aufzubessern, setze er auf einen noch höheren Minijobber-Grenzwert:

Wenn der Erwerbsfreibetrag erhöht würde, könnte der Wechsel auf Vollzeit wieder attraktiver werden. Problematischer sind eher die wegfallenden Sanktionen, sodass sich Bürgergeldempfänger weniger um die schnelle Aufnahme von Arbeit kümmern müssen.“

Bürgergeld aktuell

Nach dem Willen der Bundesregierung werden alleinstehende, erwachsene Antragsteller neben Miete und Heizung ab dem 1. Januar 563 statt wie bisher 502 Euro erhalten. Erwachsene, die mit Partnern zusammenleben, sollen künftig 506 Euro statt wie bisher 451 Euro bekommen. An Jugendliche im 15. Lebensjahr bis unter 18 Jahre fließen künftig 471 Euro (bisher 420). Für Kinder vom Beginn des 7. bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres steigt der Satz von 348 auf 390 Euro. Für die Kleinsten klettert er von 318 auf 357 Euro. Die Bundesregierung hatte die Erhöhungen offiziell mit der Inflation begründet.

Die privaten Ersparnisse der Empfänger bleiben laut Minister Heil ein Jahr lang unangetastet. „Damit die Menschen den Kopf frei haben für die Jobsuche“. Zusätzlich dürfen die Bürger per Minijob ab Januar nicht mehr nur 520 Euro, sondern bis zu 538 Euro dazuverdienen, wobei allerdings der Löwenanteil des selbst erwirtschafteten Einkommens nach einem Treppenmodell vom Bürgergeld abgezogen wird:

Hinzuverdienstgrenzen gemäß Paragraf 11b (3) SGB II
(Quelle: SBG2-Freibetragsrechner)

  • Bruttoeinkommen bis 100 Euro: kein Abzug – maximal 100 Euro bleiben zusätzlich zum Bürgergeld als Selbstbehalt
  • 101 bis 538 Euro: 20 Prozent Abzug – max. 189,40 Euro Selbstbehalt
  • 539 bis 1.000 Euro: 30 Prozent Abzug – max. 328 Euro Selbstbehalt
  • 1.001 bis 1.200 Euro (ohne Kind): 10 Prozent Abzug – max. 348 Euro Selbstbehalt
  • 1.001 bis 1.500 Euro (ohne Kind): 10 Prozent Abzug – max. 348 Euro Selbstbehalt
  • 1.001 bis 1.500 Euro (mit Kind): 10 Prozent Abzug – max. 378 Euro Selbstbehalt

Nach Angaben des Portals „SGB2.info“ sind „weitere Absetzungen […] ggf. möglich. Eine rechtsverbindliche Berechnung kann nur durch das zuständige Jobcenter erfolgen“. Einen detaillierteren Onlinerechner gibt es beispielsweise bei „Bürger-Geld.org“.

Knapp vier Millionen Empfänger

Peter Bohlmann, der Landrat des niedersächsischen Landkreises Verden bei Peine, fürchtet in seinem „Landkreis“-Beitrag, dass „die Zugangszahlen ins Bürgergeld“ noch weiter steigen könnten. Denn „zwischen August 2022 und August 2023“ habe es bereits „eine Steigerung um 145.000 auf 3,96 Millionen erwerbsfähige Leistungsberechtigte“ gegeben. „Nur knapp über 80.000“ Fälle darunter seien „auf den Fluchtzugang aus der Ukraine zurückzuführen“.

Insgesamt hatte Deutschland seit dem 24. Februar 2022 mehr als eine Million Ukrainer aufgenommen, ohne dass diese einen Antrag auf Asyl hätten stellen müssen. Sie erhalten nach Angaben des Portals „HartzIV.org“ auf Grundlage der „Massenzustromrichtlinie“ der EU (2001/55/EG) automatisch Bürgergeld.

Bohlmann kann auch in Heils Loblied vom aktuellen „Kulturwandel“, bei dem „Menschen die Chance auf eine dauerhafte Beschäftigung“ eröffnet werde, nicht einstimmen: Im Gegenteil sei „die Zahl der ‚Beschäftigungsangebote‘, die Jobcenter unterbreiten, […] ‚sensationell niedrig‘“: Von den 3,96 Millionen Leistungsbeziehern hätten „aktuell nur 335.000 Teilnehmer“ an einer „entsprechenden Maßnahme“ teilgenommen:

Selbst wenn von der Gesamtzahl noch die ca. 780.000 Erwerbs-Aufstocker abgezogen werden, wurde gerade einmal 12 Prozent der nicht erwerbstätigen Leistungsberechtigten ein Angebot erfolgreich unterbreitet.“

Union will Bürgergeld anders gestalten

Die Union hält das Bürgergeld für verzichtbar. Bereits Mitte November hatte CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann in der „Süddeutschen Zeitung“ mitgeteilt, es im Fall einer Regierungsverantwortung abschaffen zu wollen:

Wer nicht arbeiten will, muss das nicht tun – er kann dann aber auch nicht erwarten, dass die Allgemeinheit für seinen Lebensunterhalt aufkommt.“

Auch der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) kündigte an, „im Bundesrat eine Initiative zur Generalüberholung des Bürgergelds einbringen“ zu wollen: Das Bürgergeld habe den Praxistest nicht bestanden, das Gesamtniveau sei zu hoch und es setze falsch Anreize, kritisierte der Franke. Außerdem schloss er sich der Forderung des innenpolitischen Sprechers der Unionsfraktion, Alexander Throm, an, ein Ende der Bürgergeld-Zahlungen für neu ankommende ukrainische Flüchtlinge zu verhängen: Die Sozialleistung habe sich als kontraproduktiv erwiesen, die Bereitschaft der Ukrainer zur Aufnahme einer Arbeit zu erhöhen.

WSI: Vollzeitarbeit lohnt sich trotzdem

Nach Einschätzung des „Stern“ lohnt sich Vollzeitarbeit zum Mindestlohn durchaus: Alleinstehende verdienten „durchschnittlich 532 Euro mehr, als sie nach der anstehenden Bürgergeld-Erhöhung bekämen“, meldete die Illustrierte unter Berufung auf das „Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung im Auftrag des ARD-Magazins Monitor“.

Sofern im Haushalt drei Kinder vorhanden seien, dürfe ein Mindestlohn-Vollzeitarbeitnehmer bis zu 771 Euro behalten. „Das liegt vor allem daran, dass auch Geringverdienerinnen und Geringverdiener Anspruch auf zusätzliche Leistungen wie Wohngeld oder Kinderzuschlag haben – und zudem einen größeren Freibetrag bei ihrem Erwerbseinkommen“, erklärte die „Tagesschau“.

Liegt es am Lohnniveau?

Für manchen Bürger liegt die Schieflage im deutschen Arbeitsmarkt primär an der schlechten Bezahlung. „Die Leute verdienen zu wenig und daran ist nicht das Bürgergeld Schuld“, hatte nach MDR-Informationen etwa eine 22-jährige Frau argumentiert. Auch ein 28-jähriger Mann habe den Schwarzen Peter in Richtung Arbeitgeberschaft geschoben: Statt „gesellschaftlich immer nur nach unten“ zu „treten“, solle man lieber „fragen, warum eigentlich so viele Berufe, die wir alle brauchen, so unattraktiv und vor allem schlecht bezahlt sind“.

Woher die Unternehmen das Geld für immer höhere Personalkosten angesichts der andauernden Deindustrialisierung und der stetig steigenden Energiekosten nehmen sollen, erwähnten beide nicht.



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