Wahlen in Lybien sollten verschoben werden

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Triumph: Victory! vor Muhammar al-Gaddafis zerstörtem Hauptquartier Bab al-Aziziya in Tripolis.Foto: Patrick Baz/Afp/Getty Images
Von 19. September 2011

Während die libyschen Rebellen Muhammar al-Gaddafis Sturz nach seiner 42-jährigen Herrschaft in Libyen zu Recht feierten und diesen mächtigen Diktator zu einem ängstlichen Flüchtling machten, steht das neue Libyen mit seinen wirklichen Herausforderungen erst am Anfang.

Der Weg zu einer neuen Verfassung, zu neuen politischen Parteien, zum Wiederaufbau einer zerschlagenen Infrastruktur und Wirtschaft sowie zum Aufbau einer Zivilgesellschaft wird lang, schwierig und von Gewalt unterbrochen werden. Nachdem Gaddafi seinem Volk jede Möglichkeit einer Teilnahme an der Regierung verweigert hatte, müssen die Libyer die Scherben aufsammeln, die er zurückließ, um eine Grundlage für eine freie, sichere und stabile Nation zu schaffen.

Die Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit und Ordnung im ganzen Land muss die erste Priorität sein. Solange Gaddafis Anhänger noch Widerstandsnester bilden und Gaddafi selbst flüchtig bleibt, kann die Übergangsphase in Libyen nicht ernsthaft beginnen. Gaddafi muss gefasst und die vollständige Kontrolle über das Land gewonnen werden, bevor Sicherheit und elementare öffentliche Dienstleistungen wie Strom und fließendes Wasser vollständig und zuverlässig wiederhergestellt werden können. Diese beiden Schritte müssen von der im Entstehen begriffenen Übergangsregierung zuerst unternommen werden.

Es wird sehr wichtig sein, die Waffen einschließlich der großen Arsenale, die die Rebellen aus Gaddafis Komplex in Tripolis plünderten, einzusammeln. Die Neuaufstellung der Polizei und die Garantie, dass sie vollständig bezahlt wird und ordnungsgemäß funktioniert, um die innere Sicherheit zu erhalten, ist eine conditio sine qua non (eine unerlässliche Bedingung), wenn weitere Fortschritte erreicht werden sollen.

Heilungsprozess notwendig

Viele Libyer litten unter der Brutalität der für die innere Sicherheit zuständigen Truppen Gaddafis. Es wird für viele Libyer ganz normal sein, dafür Rache und Vergeltung zu üben.

Die schrittweise Freigabe von Ghaddafis Vermögen, das auf über 100.000.000.000 US-Dollar geschätzt wird, ist notwendig, damit die Regierung zahlungsfähig bleibt.

Die Übergangsregierung sollte aus den im Irak gemachten Fehlern lernen, sofort eine Kampagne der Versöhnung einzuleiten und Polizisten und Soldaten, die Gaddafi treu geblieben waren, zu  integrieren. Denn ihre Entlassung würde weitere gewalttätige Vergeltung herbeiführen, die die Bemühungen um echte Sicherheit im Land untergaben könnte.

Jetzt muss vielmehr ein Heilungsprozess statt einer Verschärfung des historischen Ost/West-Gefälles im Land stattfinden. Die einzelnen Fraktionen müssen sich konsolidieren, um eine Regierung zu bilden, „die die islamische Identität des libyschen Volkes bestätigt, sich zu moderaten islamischen Werten bekennt, extremistische Ideen vollständig ablehnt und sich verpflichtet, sie unter allen Umständen zu bekämpfen“, wie der NTC (National Transition Council – Nationaler Übergangsrat) am 30. März klarstellte. Dies wäre ein entscheidender Schritt in Richtung eines stabilen und aufblühenden Libyens.

Wenn eine Wirtschaft florieren soll und die Scharen von Auswanderern nach Libyen zurückkehren sollen, muss der entscheidende und möglicherweise aufwendige Schritt unternommen werden, die Sicherheit im ganzen Land zu gewährleisten. Gleichzeitig muss der NTC, die von zahlreichen Ländern und der Arabischen Liga anerkannte Justizbehörde in Libyen, dafür sorgen, dass die Ölproduktion wieder in Gang kommt, um das Land mit dringend benötigtem Kapital zu versorgen.

Die Wirtschaftsanalysten vermuten, es könnte immerhin zwei Jahre dauern, bis die Produktion das gleiche Niveau wie unter Gaddafis Herrschaft erreicht, die seinerzeit 1,6 Millionen Barrel pro Tag erreichte. Wie der Leiter des libyschen Stabilisierungsteams innerhalb des NTC, Ahmed Jehani, kürzlich gegenüber der BBC sagte, könnte es durchaus ein Jahrzehnt dauern, bis die Folgen der „völligen Vernachlässigung“ der Ölindustrie und der nationalen Infrastruktur unter Gaddafi kompensiert werden können.

Aufgrund der Unruhen im Land muss der NTC die umfangreiche Aufgabe übernehmen, die staatlichen Ölverträge zu modifizieren, um die Transparenz und gerechte Verteilung des Ölreichtums in Libyen zu gewährleisten.

Die Entscheidung, die Wahlen zu früh abzuhalten, würde nicht akzeptiert werden und den einzelnen Stammesfraktionen und Islamisten zu viel Macht verleihen.

Die Ölproduktion macht immerhin 95 Prozent der libyschen Exporteinnahmen aus und die Wiederaufnahme der Ölförderung wird einige Zeit in Anspruch nehmen. Daher ist es notwendig Gaddafis Vermögen, das auf über 100 Milliarden US-Dollar geschätzt wird, schrittweise freizugeben, damit die Regierung die Verpflichtung, zahlungsfähig zu bleiben, erfüllen und das Vertrauen des Volkes erhalten kann.

Die tatsächliche wirtschaftliche Entwicklung wird von zentraler Bedeutung für ein Land sein, das vor dem Ausbruch des Aufstandes über 30 Prozent Arbeitslosigkeit verzeichnete. Doch könnte durchaus ein Wachstum stattfinden, wenn es der NTC schafft, eine kompetente Regierung zu bilden, die für Vertrauen bei Unternehmen und Investoren sorgt.

Libyen könnte von seiner Lage an der Küste und seiner Nähe zu Europa durch Investitionen in soliden Tourismus, Industrie und Fertigung profitieren. Darüber hinaus wird der Bau von Bildungseinrichtungen jungen Libyern die Möglichkeit bieten, sich die heutzutage notwendigen Kenntnisse anzueignen. Dadurch könnten auch mehr ausländische Investitionen ins Land fließen und der Arbeitsmarkt expandieren.

Langer und schwieriger Übergang

Die Wiederherstellung der inneren Sicherheit, die Versöhnung zwischen den alten und neuen Garden sowie die großen Anstrengungen beim Wiederaufbau der Wirtschaft werden den Grundstein legen, um wichtige demokratische Reformen einzuleiten. Der Übergang zu einer neuen, zentralen und demokratischen Regierung wird lang und beschwerlich sein. Gaddafi hinterließ Libyen nichts: keine politischen Parteien, keine Zivilgesellschaft, keine Nichtregierungsorganisationen und kein Parlament.

Die politische Veränderung sollte mit der Entwicklung einer neuen libyschen Nationalversammlung, in der alle Städte und Gemeinden vertreten sind, beginnen. Obwohl viel getan wurde, um die Ausarbeitung einer neuen Verfassung vorzubereiten, sollte der formale Ausschuss, der offiziell damit beauftragt wird, von der libyschen Nationalversammlung gewählt und ermächtigt werden.

Im Rahmen einer libyschen Verfassung sollten die Bedürfnisse der Menschen berücksichtigt und den Stammesführern ein Mitspracherecht gewährt werden, damit die Menschenrechte verfassungsrechtlich verankert bleiben und auch vollständig eingehalten werden.

Die geplanten allgemeinen Wahlen müssen um mindestens zwei Jahre verschoben werden. In der Tat wäre es ein katastrophaler Fehler, die Wahlen in Libyen schon in der nahen Zukunft abzuhalten, wie es die Vereinigten Staaten und die EU-Länder gerne hätten.

In Ländern mit entstehenden demokratischen Bewegungen wie Tunesien und Ägypten, in denen Diktatoren gestürzt wurden, konnten Beobachter Wachstumsschmerzen feststellen, aber die Infrastrukturen der Zivilgesellschaft in diesen Ländern übertreffen bei weitem das Durcheinander, das Gaddafi hinterließ.

Die politischen Parteien brauchen Zeit und Geld, um sich zu organisieren, politische Plattformen zu entwickeln und die Öffentlichkeit damit vertraut zu machen, wie sie mit verschiedenen Themen umgeht, die die zukünftige Sicherheit und wirtschaftliche Entwicklung des Landes betreffen.

Die Entscheidung, die Wahlen zu früh abzuhalten würde nicht akzeptiert werden und den einzelnen Stammesfraktionen und Islamisten zu viel Macht verleihen. Das beträfe vor allem die Libysche Islamische Kampfgruppe (LIFG – Libyan Islamic Fighting Group), die wahrscheinlich als einzige in der unfertigen politischen Landschaft Libyens in der Lage ist, Anhänger zu sammeln.

Es bleibt abzuwarten, ob die Reste der LIFG in einem neuen Libyen ihre Versprechen vom November 2009 einhalten werden, die Gewaltanwendung des Dschihad gegen „Frauen, Kinder, ältere Menschen, Nachrichtenübermittler, Händler und dergleichen abzulehnen“.

Der Westen handelte richtig, als er mithilfe der NATO die Rebellen beim Sturz des Geisteskranken, der Libyen 42 Jahre lang regierte, unterstützte. Die Strategie war vor allem deshalb erfolgreich, weil die Libyer selbst, mithilfe des Westens, der die Rebellen in ihrem Kampf unterstützte, den Grundstein für den Sieg legten und ihn schließlich auch davontrugen.

Der Aufbau eines neuen Libyens muss auf diese Weise erreicht werden. Während die internationale Gemeinschaft eine wichtige Rolle dabei spielen muss, das Land mit dringend benötigten Investitionen und Entwicklungen zu versorgen, wird der Erfolg des libyschen Übergangs letztlich von der weiteren Entschlossenheit des libyschen Volkes selbst abhängen.

Um das Vertrauen aller Libyer zu gewinnen, muss der NTC Fortschritte vorweisen und die Entwicklung in Richtung eines starken und sicheren Libyens unter Einhaltung der Menschenrechte vom ersten Tag an vorantreiben. Während sich eine dauerhafte Veränderung nur langsam erreichen lässt, werden progressive Veränderungen sofort beginnen.

Alon Ben-Meir ist Professor für internationale Beziehungen am Center for Global Affairs an der New York University.

Artikel auf Englisch: Elections in Libya Should be Deferred

 



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