Steht die Finanzkrise 2.0 bevor? Türkei 2021 und Lehman 2008. Eine Analogie?

Relativ unbeobachtet von der Gesellschaft stürzt die türkische Lira ab. Heute bekommt man etwa 50 Prozent mehr Lira pro US-Dollar als vor zwei Monaten. Volkswirtschaftler Prof. Christian Kreiß untersuchte die Lage.
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Am 24. November 2021 vor einem Geldwechselgeschäft in Ankara, Türkei. Die türkische Währung fiel um 15 Prozent, als die Zentralbank ihren Leitzins um einen Prozentpunkt senkte, obwohl die jährliche Inflationsrate fast 20 Prozent erreicht hat.Foto: ADEM ALTAN/AFP via Getty Images
Von 26. November 2021

Am 23. November 2021 betrug der Wechselkurs der türkischen Lira zum US-Dollar etwa 12,70 Lira pro Dollar. Mitte September lag der Kurs noch bei ungefähr 8,50. Heute bekommt man also etwa 50 Prozent mehr Lira pro Dollar als vor zwei Monaten.

Vor fünf Jahren, im November 2016, stand die Lira bei ca. 3,5. Heute bekommt man also etwa dreieinhalb Mal so viele Lira pro Dollar wie vor fünf Jahren. Anders ausgedrückt: Die Lira hat sich in den letzten fünf Jahren im Wert beinahe geviertelt.

Hohe türkische Schulden in Fremdwährung

Die Türkei hatte im zweiten Quartal 2021 laut Global Debt Monitor Schulden von insgesamt circa 153 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt. Bei einem BIP von rund 720 Milliarden US-Dollar 2020 entspricht das etwa Schulden in Höhe von 1.100 Milliarden Dollar. Die Auslandsschulden betrugen im zweiten Quartal 2021 446 Milliarden Dollar. Das entspricht 62 Prozent des BIP.

Nach Berechnungen des Institute of International Finance beliefen sich die Schulden der Türkei in ausländischer Währung zur Jahresmitte 2021 auf 80 Prozent vom BIP. Das entspricht ungefähr 576 Milliarden Dollar. Die Türkei hat also erhebliche Fremdwährungsverbindlichkeiten. Das heißt, wenn die Lira sich abschwächt, wird das Bedienen der Fremdwährungsschulden schwieriger.

Allein türkische Unternehmen haben derzeit 33,8 Prozent vom BIP bzw. über 240 Milliarden Dollar Fremdwährungsschulden. Wenn man die Verbindlichkeiten in Lira umrechnet, heißt das, dass diese türkischen Unternehmen in türkischer Lira nun 50 Prozent mehr Schuldendienst leisten müssen als noch vor zwei Monaten.

Das könnte manche Unternehmen in Liquiditätsschwierigkeiten bringen und zu Problemen beim Schuldendienst führen. Das Gleiche gilt für die türkische Regierung, die mit 23 Prozent vom BIP in ausländischer Währung verschuldet ist, und türkische Banken, die ebenfalls Fremdwährungsschulden in Höhe von 23 Prozent vom BIP haben.

Am Grand Bazaar in Istanbul, 24. November 2021. Foto: OZAN KOSE/AFP via Getty Images

Türkei vor Finanzkrise?

Kurz: Der dramatische Absturz der Lira könnte und dürfte dazu führen, dass so manche türkischen Schuldner in Rückzahlungsprobleme kommen. Das ist umso wahrscheinlicher, als das Vertrauen der türkischen Konsumenten im November 2021 den tiefsten Stand seit Beginn der Datenerhebung 2004 erreichte.

Die Prognosen für den Inlandskonsum und damit für die wirtschaftliche Entwicklung sind also denkbar schlecht, trotz steigender Exporte. Auch die Inflationsrate von derzeit knapp 20 Prozent trägt nicht gerade zur Vertrauensbildung der Konsumenten und zu Optimismus bei der Währungsentwicklung bei.

Einen Monat zuvor: am 27. Oktober 2021 in Istanbul. Foto: Chris McGrath/Getty Images

Auswirkungen türkischer Finanzprobleme auf die Weltfinanzmärkte

Angesichts des selbst im internationalen Vergleich relativ hohen Gesamtbetrages der Fremdwährungsschulden von über 570 Milliarden Dollar könnten sich Zahlungsprobleme türkischer Schuldner schnell auf die Weltanleihemärkte übertragen und dort zu Kursrückgängen führen.

Es ist also gut möglich, dass türkische Finanzprobleme eine Erschütterung an den Bondmärkten nach sich ziehen und dort möglicherweise eine Kettenreaktion auslösen. Zur Erinnerung: Lehman hatte kurz vor seiner Pleite 2008 Schulden von 613 Milliarden Dollar. Dieser Betrag hat ausgereicht, um eine Weltfinanzkrise auszulösen. Die Schulden der Türkei haben eine ähnliche Größenordnung und daher möglicherweise ebenfalls das Zeug, eine globale Finanzkrise loszutreten.

Dazu kommt, dass die weltweiten Schulden im Verhältnis zum Weltsozialprodukt heute deutlich höher sind als 2008. Im Juni 2021 beliefen sie sich auf 296 Billionen Dollar oder 353 Prozent der Weltwirtschaftskraft. Sie lagen um 36 Billionen Dollar höher als vor den Lockdowns ab März 2020. Die Zahl von sogenannten Zombie-Unternehmen, die die letzten Jahre eigentlich nur wegen der extrem niedrigen Zinsen überleben konnten, ist beachtlich.

Das Volumen an high yield bonds und BBB-gerateten Unternehmensschulden in den USA ist in den letzten 10 Jahren wegen des historisch einzigartig niedrigen Zinsniveaus sprunghaft gestiegen. Auch einige Länder wie Griechenland oder Italien haben derart hohe Staatsschulden, dass eine Unruhe an den Bondmärkten leicht auf sie übergreifen könnte.

Außerdem sind die Aktien- und die Immobilienpreise heute ebenfalls signifikant höher als 2008. Das Shiller-PE-Ratio des S&P 500 ist derzeit mit 39,5 fast zweieinhalb Mal so hoch wie im Durchschnitt der letzten 150 Jahre. Nur 1929 und 2000 war es ähnlich hoch wie heute. Beide Male kam es kurz darauf zu einem Börsencrash.

Steht die Finanzkrise 2.0 bevor?

Mit anderen Worten: Das Crashpotenzial an den Aktienbörsen, den Bond- und Immobilienmärkten ist heute deutlich höher als 2008. Der Sturz könnte also wesentlich tiefer werden als während der Finanzkrise 2007 bis 2009.

Die Schulden der Türkei könnten heute eine ähnliche Rolle spielen wie die Schulden von Lehman 2008 und der Auslöser einer zweiten Finanzkrise sein. Die dürfte deutlich schlimmer werden als die erste. Ich denke, die Zeichen stehen auf Sturm, möglicherweise einen perfekten Sturm.

Prof. Dr. Christian Kreiß war neun Jahre als Bankier tätig und ist seit 2002 Professor an der Hochschule Aalen für Finanzierung und Volkswirtschaftslehre. Zudem hat er sieben Bücher geschrieben, darunter „Gekaufte Wissenschaft“ (2020) und „Das Mephisto-Prinzip in unserer Wirtschaft“ (2019). Er erhielt mehrfach Einladungen in den Deutschen Bundestag als unabhängiger Experte (Grüne, Linke, SPD) und ist in den Medien oft gefragt. www.menschengerechtewirtschaft.de 



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