Bio-Stromkabel zur „Mikrobe des Jahres 2024“ gekürt

Die Mikrobe des Jahres hat eine ganz besondere Fähigkeit: „Electronema“ können im Verbund Strom über mehrere Zentimeter leiten. Forscher haben schon biologisch abbaubare Stromkabel im Sinn.
Die Mikrobe des Jahres 2024: das Kabelbakterium Candidatus Elektronema.
Die Mikrobe des Jahres 2024, das Kabelbakterium Candidatus Electronema, 10.000-fach vergrößert, bildet „Kabelsalat“. Aufnahme: Pia B. Jensen, Aarhus, CC BY 4.0
Von 21. Dezember 2023

Candidatus Electronema elektrifiziert die Wissenschaft, und zwar im wahrsten Sinn des Wortes. Das stromleitende Kabelbakterium wurde von der Vereinigung für Allgemeine und Angewandte Mikrobiologie (VAAM) in Frankfurt zur „Mikrobe des Jahres 2024“ gekürt.

Zehntausende der winzigen Mikroorganismen können im Verbund bis zu fünf Zentimeter lange Ketten bilden, die auch Kabel genannt werden. „Diese sind durch stromleitende Proteinfasern in ihrer Zellhülle verbunden“, so die VAAM.

Mit Eigenschaften, die denen eines metallischen Kabels ähneln, sei die Gattung Electronema „für eine auf Biomaterialien basierende Elektronik äußerst interessant“. Wie die Mikrobiologen weiter mitteilten, sind „die leitfähigen Strukturen der Kabelbakterien zwar bereits patentiert“, von einer kommerziellen Umsetzung sei die Entwicklung jedoch noch weit entfernt – als echtes Kabel verwendet werden sie aber bereits.

Mögliche und realisierte Anwendungsbereiche der Kabelbakterien. Foto: Vincent Scholz & Tillmann Lüders

Die Zitteraale-Mikrobe unter den Bakterien

Die Kettenform der Bakterien der Gattung Electronema ermöglicht eine besondere Arbeitsteilung. Während in unserem Körper jede einzelne Zelle „essen“ (Nahrung oxidieren) und „atmen“ (Sauerstoff reduzieren) muss, teilen Kabelbakterien diese lebenserhaltende Redoxreaktion auf. Tausende Zellen jedes einzelnen Kabels leben im unteren Teil des Sediments von Gewässern.

Dort gibt es zwar reichlich Sulfid – Nahrung –, aber keinen Sauerstoff, dieser befindet sich mehrere Zentimeter entfernt an der Sedimentoberfläche. Für einzelne Mikroben eine schier unüberbrückbare Entfernung, für Ketten von Electronema bestehend aus mehreren Tausend Zellen jedoch möglich. So können die Kabelbakterien Sulfid zu Sulfat oxidieren, indem sie die dabei anfallenden Elektronen über die stromleitenden Fasern auf den Sauerstoff am anderen Ende des Kabels übertragen. Es gibt also Zellen, die „essen“ (Sulfid oxidieren und CO₂ fixieren) und andere, die „atmen“ (Sauerstoff reduzieren).

Epifluoreszenzmikroskopie einer Candidatus-Electronema-Anreicherung. Foto: Andreas Schramm, CC BY 4.0

Transmissionselektronenmikroskopie (TEM) eines Candidatus-Electronema-Querschnitts. In der Außenhülle liegen die stromführenden Fasern. Zelldurchmesser 1,2 µm. Foto: Pia B. Jensen, CC BY4.0.

Dadurch können Kabelbakterien als einzige Organismen das Sulfid in einer Zone verwerten, wo es keinen Sauerstoff gibt. Das sei „ein großer Vorteil gegenüber konkurrierenden Mikroorganismen“, so die VAAM. Kabelbakterien wurden demnach erst vor zwölf Jahren am Grund von Meeren und Seen entdeckt. Mittlerweile sind zwölf Kabelbakterien-Arten beschrieben.

90 Prozent weniger Methan

Die recht „neuen“ Kabelbakterien seien indes nicht nur mikrobiologisch und biogeochemisch, sondern auch mit ihrem Anwendungspotenzial in der Umwelt- und Biotechnologie eine Sensation, beschreiben die Forscher.

Kabelbakterien produzieren im Sediment nicht nur Sulfat, sie stimulieren mikrobielle Aktivitäten, die sonst nur an Orten mit Sauerstoff möglich sind. Electronema seien darüber hinaus häufig in Gewässern zu finden, die mit Kohlenwasserstoffen belastet sind – etwa nach Benzin- oder Ölkontamination. Sie steigern den Abbau aromatischer Kohlenwasserstoffe oder organischer Stoffe wie Faulschlamm in den Sedimenten überdüngter Seen. Durch Elektroden im Sediment lasse sich die Wirkung der Kabelbakterien gezielt stimulieren.

Eine weitere denkbare Anwendung ist die Reduzierung von natürlichen Treibhausgasen. Demnach entstehen in überfluteten Reisfeldern jedes Jahr große Mengen Methan. Kabelbakterien, die im Wurzelbereich von Reispflanzen leben, können dort die Methanbildung um über 90 Prozent verringern.

Feldversuch in einem Reisfeld in den USA zu Stimulation von Electronema. Vier Messkammern dienen der Bestimmung der Methanemissionen verschiedener Behandlungen. Foto: Vincent Scholz, Tillmann Lueders.

Die Krönung von Candidatus Electronema stellt noch ein weiteres Novum dar. Erstmals wurde eine Bakterienart zur Mikrobe des Jahres, deren Beschreibung noch nicht vollständig ist. Obwohl Electronema in der Natur zwar nachgewiesen werden können, ist es nach Angaben der VAAM bislang nicht gelungen, sie im Labor in Reinkultur zu züchten. Dank genauer Genomdaten seien sie dennoch sehr gut charakterisiert.

Biokabel statt Elektroschrott?

Auch an Stromkabel im eigentlichen Sinn dachten nicht nur die Forscher, sondern auch Künstler, allerdings aus ganz unterschiedlichen Gründen. Einerseits wird weltweit nur etwa ein Fünftel der jährlich über 50 Millionen Tonnen Elektroschrott recycelt. Biologisch abbaubare Stromleiter könnten einen wichtigen Beitrag zu mehr Nachhaltigkeit leisten.

Andererseits mag die Idee wie Science-Fiction klingen, doch sie funktioniert. Das beweist die spanische Künstlerin Anna Pasco Bolta und nutzt die elektrische Leitfähigkeit der Kabelbakterien bereits in ihren Projekten: Mit Canditatus-Electronema-Filamenten verbindet sie Mikrofon und Verstärker für ihre über Kabelbakterien gelesenen Gedichte.

Anna Pasco Bolta: „Symbiose und Zusammengehörigkeit“ – Vorstellung und Installation des Audiokabel-Bakterien-Liebesbrief 2023. Foto: Anna Pasco Bolta

Mit Material von dpa und VAAM.



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