Ist die Natur ein Mechanismus?

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Der schöne Planet.Foto: iStock
Von 21. Oktober 2021

Vor dem siebzehnten Jahrhundert ging fast jeder davon aus, dass das Universum wie ein Organismus ist, und das galt auch für die Erde. Im klassischen und mittelalterlichen Europa sowie zur Zeit der Renaissance wurde die Natur als lebendig aufgefasst.

Leonardo da Vinci (1452-1519) brachte diese Vorstellung beispielsweise so zum Ausdruck: „Man kann sagen, dass die Erde eine vegetative Seele hat und dass ihr Fleisch das Land ist, ihre Knochen die Struktur der Felsen … ihr Atem und Puls sind die Ebbe und Flut des Meeres.“

William Gilbert (1540-1603), ein Vorreiter auf dem Gebiet der Magnetismusforschung, vertrat eine klare organische Naturphilosophie: „Wir sind der Ansicht, dass das ganze Universum beseelt ist und dass alle Himmelskörper, alle Sterne und auch die herrliche Erde von Anfang an von ihren eigenen, dazu bestimmten Seelen regiert werden und die Kraft der Selbsterhaltung haben.“

Selbst Nikolaus Kopernikus – dessen revolutionäre Theorie der Himmelsbewegung im Jahr 1543 veröffentlicht wurde und die Sonne statt der Erde in den Mittelpunkt stellte – war kein Mechanist. Seine Gründe für diese Änderung waren sowohl mystisch als auch wissenschaftlich. Er war der Meinung, dass eine zentrale Position die Sonne würdigte: 

„Manche nennen sie nicht zu Unrecht das Licht der Welt, andere die Seele, wieder andere den Herrscher. Tremigmpliistus nennt sie den sichtbaren Gott: Sophokles‘ Elektra, den Allsehenden. In der Tat sitzt die Sonne auf ihrem Königsthron und lenkt ihre Planetenfamilie, die um sie kreist.“

Kopernikus‘ Revision der Kosmologie war ein starker Anreiz für die spätere Entwicklung der Physik. Der Übergang zum mechanischen Theorieansatz über die Natur, der nach 1600 seine Anfänge fand, war jedoch viel radikaler.

Schon seit Jahrhunderten gab es mechanische Modelle für einige Aspekte der Natur. In der Kathedrale von Wells im Westen Englands befindet sich beispielsweise eine noch immer funktionierende astronomische Uhr, die vor mehr als sechshundert Jahren installiert wurde. Das Zifferblatt der Uhr zeigt die Sonne und den Mond, die sich um die Erde drehen, vor einem Hintergrund aus Sternen. Die Bewegung der Sonne zeigt die Tageszeit an und der innere Kreis der Uhr stellt den Mond dar, der sich einmal im Monat dreht. Zur Freude der Besucher laufen zur Viertelstunde Figuren von kämpfenden Rittern umher, die sich gegenseitig jagen, während eine männliche Figur mit seinen Schuhabsätzen Glocken anschlägt.

Die Wells-Uhr in der Kathedrale von Wells mit ihren Originalzifferblättern. Sie wurde um 1390 hergestellt und ist die älteste bekannte Uhr der Welt. Foto: istockphoto

Astronomische Uhren wurden zuerst in China und in der arabischen Welt hergestellt und mit Wasser betrieben. In Europa begann man um 1300 mit dem Bau solcher Uhren, allerdings mit einem neuartigen Mechanismus, der durch Gewichte und Ankerhemmungen funktionierte. Bei all diesen frühen Uhren ging man davon aus, dass sich die Erde im Zentrum des Universums befindet. Sie waren nützliche Modelle für die Zeitmessung und die Vorhersage der Mondphasen, aber niemand glaubte, dass das Universum wirklich wie ein Uhrwerk funktioniert.

Im 16. Jahrhundert vollzog sich jedoch ein Wechsel von der Metapher des Organismus zur Metapher der mechanisierten Wissenschaft, wie wir sie kennen. Mechanische Modelle des Universums sollten das tatsächliche Funktionieren der Welt darstellen. Die Bewegungen der Sterne und Planeten sollten von unpersönlichen mechanischen Prinzipien gesteuert werden, nicht von Seelen mit eigenem Leben und eigenen Bestrebungen. 

Im Jahr 1605 fasste Johannes Kepler sein Programm wie folgt zusammen: „Mein Ziel ist es zu zeigen, dass die Himmelsmaschine nicht mit einem göttlichen Organismus, sondern eher mit einem Uhrwerk zu vergleichen ist. Außerdem zeige ich, wie diese physikalische Vorstellung durch Berechnung und Geometrie darzustellen ist.“ 

Galileo Galilei (1564-1642) stimmte zu, dass „unerbittliche, unveränderliche“ mathematische Gesetze alles regieren würden.

Die Analogie mit der Uhr war besonders überzeugend, weil Uhren in sich geschlossen funktionieren. Sie schieben oder ziehen keine anderen Objekte an. Ebenso sollte das Universum seine Arbeit durch die Regelmäßigkeit seiner Bewegungen verrichten und wäre das ultimative System zur Zeitmessung. Mechanische Uhren hatten noch einen weiteren metaphorischen Vorteil: Sie waren ein gutes Beispiel für Wissen durch Konstruktion, oder Wissen durch Tun. Jemand, der eine Maschine konstruieren konnte, konnte sie auch rekonstruieren. Mechanisches Wissen war Macht.

Die Vision der mechanischen Natur entwickelte sich inmitten der verheerenden Religionskriege im Europa des siebzehnten Jahrhunderts. 

Die mathematische Physik war auch deshalb so attraktiv, weil sie einen Weg zu bieten schien, konfessionelle Konflikte zu überwinden und ewige Wahrheiten zu offenbaren. Die Wegbereiter des mechanistischen Weltbildes fanden ihrer Ansicht nach einen neuen Weg, die Beziehung der Natur zu Gott zu verstehen, wobei der Mensch eine gottähnliche mathematische Allwissenheit annahm, die sich über die Grenzen des menschlichen Geistes und Körpers erhob. 

Wie Galilei es ausdrückte: „Wenn Gott die Welt erschafft, erzeugt er eine durch und durch mathematische Struktur, die den Gesetzen aus Zahl, geometrischer Figur und quantitativer Funktion gehorcht. Die Natur ist ein verkörpertes mathematisches System“. 

Allerdings gab es ein wesentliches Problem. Die meisten unserer Erfahrungen sind nicht mathematisch. Wir schmecken Essen, sind wütend, erfreuen uns an der Schönheit von Blumen und lachen über Witze. Um die Vorrangstellung der Mathematik durchzusetzen, mussten Galilei und seine Nachfolger zwischen den so genannten „primären Qualitäten“, die sich mathematisch beschreiben lassen, wie Bewegung, Größe und Gewicht, und den „sekundären Qualitäten“, wie Farbe und Geruch, die subjektiv sind, unterscheiden. Sie betrachteten die reale Welt als objektiv, quantitativ und mathematisch. Die persönliche Erfahrung in der gelebten Welt war subjektiv, ein Bereich der Meinung und der Illusion, der außerhalb des Bereichs der Wissenschaft lag.

Eine kleine Nachforschung

Alles hängt von sich entwickelnden Gewohnheiten ab, nicht von festen Gesetzen. So werden beispielsweise Dinge wie die Gravitationskonstante oder die Lichtgeschwindigkeit als Fundamentalkonstanten bezeichnet. Sind sie wirklich konstant?

Nun, als ich mich für diese Frage interessierte, versuchte ich natürlich, die Antwort zu finden. 

In den Handbüchern der Physik werden die bestehenden Grundkonstanten aufgelistet und ihre Werte angegeben. Aber ich wollte sehen, ob sie sich verändert hatten, also habe ich mir die alten Bände der physikalischen Handbücher besorgt. Ich ging in die Bibliothek des Patentamts hier in London – sie ist der einzige Ort, den ich finden konnte, der die alten Bände aufbewahrt. Normalerweise wirft man die alten Bände weg, wenn die neuen Werte herauskommen.

Dabei habe ich festgestellt, dass die Lichtgeschwindigkeit zwischen 1928 und 1945 um etwa 20 Kilometer pro Sekunde gesunken ist. Das ist ein enormer Rückgang, denn die Werte werden mit Abweichungen von Bruchteilen einer Sekunde angegeben. Und doch sank sie überall auf der Welt und alle erhielten sehr ähnliche Werte mit nur minimalen Abweichungen. Dann, 1948, stieg sie wieder an. Danach erhielten die Messstellen überall wieder sehr ähnliche Werte. 

Das faszinierte mich sehr und ich konnte mir keinen Reim darauf machen, also suchte ich den Leiter der Metrologie am National Physical Laboratory in Teddington auf. Metrologie ist die Wissenschaft, in der man Konstanten misst. Ich fragte ihn: „Was halten Sie von diesem Rückgang der Lichtgeschwindigkeit zwischen 1928 und 1945?“

Er sagte: „Oh je,  Sie haben die peinlichste Episode in der Geschichte unserer Wissenschaft aufgedeckt.“

Ich fragte weiter: „Kann es sein, dass die Lichtgeschwindigkeit tatsächlich gesunken ist? Und wenn ja, hätte das ja erstaunliche Auswirkungen.“

Er meinte: „Nein, nein, natürlich kann sie nicht wirklich gesunken sein. Sie ist eine Konstante!“

„Oh, aber wie erklären Sie dann die Tatsache, dass jeder festgestellt hat, dass sie in dieser Zeit viel langsamer geworden ist? Liegt es daran, dass sie ihre Ergebnisse gefälscht haben, um das zu herauszubekommen, wovon sie dachten, dass es andere Kollegen herausbekommen würden, und die ganze Sache nur in den Köpfen der Physiker entstanden ist? “

„Wir benutzen das Wort verfälschen nicht gerne.“

Ich fragte: „Und was bevorzugen Sie dann?“

Er entgegnete: „Nun, wir nennen es lieber ‚intellektuelles Phase-Locking‘.“

Daraufhin sagte ich: „Wenn das damals so war, wie können Sie dann so sicher sein, dass es heute nicht mehr so ist? Und dass die heutigen Werte nicht durch intellektuelles Phase-Locking erzeugt werden?“

Und er sagte: „Oh, wir wissen, dass das nicht der Fall ist.“

Und ich fragte: „Wie können wir das wissen?“

Er meinte: „Nun, wir haben das Problem gelöst.“

Erstaunt fragte ich: „Und wie?“

Er erklärte: „Nun, wir haben 1972 die Lichtgeschwindigkeit per Definition festgelegt.“

Also sagte ich: „Aber sie könnte sich immer noch ändern.“

Woraufhin er entgegnete: „Ja, aber wir würden es nie erfahren, weil wir das Messgerät in Bezug auf die Lichtgeschwindigkeit definiert haben, also würden sich die Einheiten mit ihr ändern!“

Er sah sehr erfreut darüber aus, dass sie dieses Problem gelöst hatten.

Aber ich fragte weiter: „Und was ist dann mit dem großen G?“ Die Gravitationskonstante, in der Fachwelt als „großes G“ bekannt, wurde mit dem Großbuchstaben G geschrieben, Newtons universelle Gravitationskonstante. „Sie hat sich in den letzten Jahren um mehr als 1,3 Prozent verändert. Und sie scheint von Ort zu Ort und von Zeit zu Zeit zu variieren.“

Er sagte: „Na ja, das sind eben Fehler. Leider gibt es ziemlich gravierende Fehler beim großen G.“

Ich entgegnete: „Und wenn es sich wirklich ändert? Ich meine, vielleicht verändert es sich wirklich.“

Danach habe ich mir angesehen, wie sie es machen: Sie messen es in verschiedenen Laboren, erhalten an verschiedenen Tagen unterschiedliche Werte und bilden dann den Durchschnitt. Andere Labore auf der ganzen Welt machen das Gleiche und kommen in der Regel zu einem etwas anderen Durchschnittswert. Und dann trifft sich das internationale Komitee für Metrologie alle zehn Jahre oder so und bildet den Durchschnitt aus den Werten der Labore in der ganzen Welt, um den Wert von groß G zu ermitteln.

Aber was wäre, wenn G tatsächlich Schwankungen unterliegen würde? Was, wenn es sich ständig ändern würde? Es gibt bereits Beweise dafür, dass es sich im Laufe des Tages und des Jahres ändert. Was wäre, wenn die Erde auf ihrem Weg durch den galaktischen Raum dunkler Materie oder anderen Umweltfaktoren ausgesetzt wäre, die den Wert verändern könnten? Vielleicht verändern sie sich alle zusammen. Was wäre, wenn diese Fehler gemeinsam ansteigen und abnehmen? 

Seit mehr als zehn Jahren versuche ich, Messtechniker davon zu überzeugen, sich die Rohdaten anzusehen. Jetzt versuche ich, sie davon zu überzeugen, die Daten und die tatsächlichen Messungen ins Internet zu stellen, um zu sehen, ob sie aufeinander abgestimmt sind. Um zu sehen, ob sie zu einem bestimmten Zeitpunkt steigen und zu einem anderen sinken. Wenn ja, könnten sie gemeinsam eine Schwankung aufweisen. Und das würde uns etwas sehr, sehr Interessantes sagen. Aber niemand hat das getan, weil G eine Konstante ist. Und somit hat es also keinen Sinn, nach Veränderungen zu suchen.

Sehen Sie, das ist ein sehr einfaches Beispiel dafür, dass eine dogmatische Annahme die Forschung tatsächlich behindert. Die mechanistische Theorie stützt sich auf die Metapher der Maschine. Aber das ist nur eine Metapher. Lebende Organismen bieten bessere Metaphern für organisierte Systeme auf allen Ebenen der Komplexität, einschließlich Molekülen, Pflanzen und Tiergesellschaften. Sie alle sind in einer Reihe von umfassenden Ebenen organisiert, wobei das Ganze auf jeder Ebene mehr ist als die Summe der Teile, die wiederum Ganzheiten auf einer niedrigeren Ebene sind. Das gesamte Universum gleicht eher einem wachsenden, sich entwickelnden Organismus als einer Maschine.

In Anlehnung an Rupert Sheldrakes Buch „Der Gotteswahn“ und seinen TedTalk.

Der Biologe und Bestsellerautor Rupert Sheldrake gehört zu den Vorreitern eines neuen ganzheitlichen Weltbildes, das Naturwissenschaft und Spiritualität miteinander verbindet. Bekannt geworden ist er durch seine Theorie der morphogenetischen Felder.



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