Armenien und die Turkvölker: Droht nach dem Blitzkrieg ein größerer Konflikt im Kaukasus?

Nachdem der eintägige Blitzkrieg in Karabach vorüber ist, fragen sich viele, wie es mit dem Konflikt weitergehen wird. Experten warnen vor einer größeren Herausforderung in der Region.
Titelbild
Das Kloster Chor Virap in Armenien, im Hintergrund der Berg Ararat (der der Türkei zugeordnet wurde). 1920 wurde Armenien zwischen der Türkei und Sowjetrussland aufgeteilt. 1991 wurde Armenien offiziell unabhängig.Foto: iStock
Von 28. September 2023

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„Unsere Leute wollen nicht als Teil von Aserbaidschan leben. 99,9 Prozent von ihnen würden lieber ihr angestammtes Land verlassen“, stellt David Babayan gegenüber „Reuters“ fest. Die in Berg-Karabach lebenden Armenier machen sich gerade auf den Weg nach Armenien, weil sie nicht unter aserbaidschanischer Herrschaft leben wollen. Sie fürchten eine mögliche ethnische Säuberung, so der Präsidentenberater der selbst ernannten Republik Berg-Karabach. Am 27. September wurde von 47.000 Menschen gesprochen, die inzwischen geflüchtet sind. Vor dem Militärschlag Aserbaidschans lebten in Berg-Karabach 120.000 Armenier, in Armenien selbst 2,8 Millionen.

Aserbaidschaner bieten denen, die flüchten, als Weg den sogenannten Latschin-Korridor an, die einzige Verbindung zwischen Berg-Karabach und Armenien. Auf Fotos sind riesige Staus zu sehen, die Menschen sind zu Tausenden unterwegs.

Fachleute spekulieren nun über die nächsten Schritte, denn sie vermuten, dass das endgültige Ziel bislang nicht erreicht wurde. Dahinter vermuten sie einen viel umfassenderen, erheblich größeren Konflikt.

Ambitionen der Türkei von der Adria bis zur Chinesischen Mauer

Im Prinzip werde Aserbaidschan keine weiteren militärischen Ambitionen hegen, so der Analyst Gábor Stier. Die sie unterstützenden türkischen Streitkräfte und die Türkei könnten jedoch ein anderes Ziel verfolgen. Stier ist Senior-Analyst für Außenpolitik bei der ungarischen konservativen Tageszeitung „Magyar Nemzet“.

Das Ziel sei, einen Landkorridor zwischen der Türkei, Nachitschewan (einer Exklave von Aserbaidschan) und Aserbaidschan bis zum Kaspischen Meer zu schaffen, um den „Großen Turan“ zu verwirklichen.

Der „Große Turan“ ist ein politisches Konzept, das auf die Schaffung eines gemeinsamen Staates oder einer Union von Turkvölkern abzielt. Das Konzept basiert auf der Idee, dass die Turkvölker eine gemeinsame kulturelle und historische Identität teilen und dass sie durch eine engere Zusammenarbeit und Integration ihre politische und wirtschaftliche Macht stärken können. In einigen Fällen wird der Begriff auch verwendet, um eine Region zu beschreiben, die von Turkvölkern bewohnt wird, die sich von der Türkei bis nach Zentralasien erstreckt.

Ankara habe Ambitionen für eine Art Türkei, die sich von der Adria bis zur Chinesischen Mauer erstrecke, schrieb Paul Antonopoulos Ende 2021. Eine provokative Karte, die 2021 dem türkischen Präsidenten Erdoğan von seinem Koalitionspartner Devlet Bahçeli (Vorsitzender der Partei der Nationalistischen Bewegung) vorgelegt wurde, umfasst nicht nur die Türkei, sondern auch große Gebiete Südrusslands und Ostsibiriens, Teile Griechenlands und andere Gebiete auf dem Balkan, Zentralasien, die chinesische Provinz Xinjiang, die Mongolei und den Iran.

Gábor Stier verweist darauf, dass diese Pläne auch die Eroberung von Sangesur, dem südöstlichen Teil Armeniens, erfordern. International wird auch von „Zangezur“ geschrieben.

Der aserbaidschanische Präsident Ilham Aliyev sagte 2021 dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, dass der „Sangesur-Korridor die gesamte türkische Welt vereinen wird“. Aliyev erklärte damals vor Journalisten, dass „Aserbaidschan und die Türkei praktische Schritte zur Verwirklichung des Sangesur-Korridors unternehmen“ wird und fügte hinzu, dass diese Schritte „sicherlich in naher Zukunft Ergebnisse bringen werden“.

Nun, das wäre ein viel komplizierterer Krieg als der derzeitige, aber er scheint unvermeidlich zu sein, da dies das unmittelbare Ziel der Türken ist“, sagt Stier.

Das sei auch der Grund, so der Experte, warum die Türken Aserbaidschan bei Berg-Karabach unterstützt haben, denn „sie haben Ziele für die gesamte türkische Welt“.

Aserbaidschan und die Türkei fördern das Konzept des „Sangesur-Korridors“, der, wenn er umgesetzt wird, Aserbaidschan mit Nachitschewan und die Türkei mit dem Rest der türkischen Welt über die armenische Provinz Syunik verbinden würde. Foto: Freeworldmaps.net / Frei verwendbarer Inhalt

Auch das Programm „Vision der türkischen Welt 2040“ steht für eine umfassende Zusammenarbeit zwischen den türkischsprachigen Staaten – unter der Schirmherrschaft der Organisation der Turkstaaten (OTS). Bei der Vorstellung der Pläne für 2040 betonte der türkische Präsident, dass „die Organisation der Turkstaaten niemanden beunruhigen sollte“.

Diese Organisation sei nur eine Plattform für die Entwicklung zwischenstaatlicher Beziehungen, betonte Erdoğan auf dem Gipfeltreffen des Kooperationsrates der türkischsprachigen Staaten 2021. Der Organisation der Turkstaaten gehören an: Aserbaidschan, Kasachstan, Kirgisistan, die Türkei und Usbekistan. Ungarn, Nordzypern und Turkmenistan sind Beobachterstaaten der Organisation.

Welche Interessen hat der Iran?

Für den Iran stellt die Region Sangesur den kleinen Landstrich dar, über den seine einzige Landhandelsroute verläuft. Im Falle eines Angriffs auf armenisches Gebiet wären daher neben Armenien auch Russland (als eigentliche Schutzmacht Armeniens) und der Iran beteiligt. In diesem Fall, so Stier, „wäre der Westen, der im Moment nicht wirklich nach einer Offensive ’schreit‘, auch gezwungen, einzugreifen“.

Zumal die Türkei auch Mitglied der NATO ist. Es könnte also ein Konflikt mit viel weitreichenderen Folgen und politischen Verzweigungen werden, warnt der Fachmann.

Auch Moskau will Sangesur

Auch der Kaukasus-Experte Stefan Meister macht in einem Interview mit „Cicero“ auf die Möglichkeit eines zukünftigen größeren Konflikts aufmerksam.

Die Bedeutung Armeniens für Russland habe sich stark verringert. Damit stiege die Möglichkeit des viel größeren Krieges, meint der Analyst. Eine Einnahme von Sangesur ist nach seiner Ansicht sehr wahrscheinlich. Das läge vor allem daran, dass der bisherige „Schutzherr Armeniens“ – Russland – derzeit andere Dinge im Sinn habe als früher.

„Russlands Interessen haben sich einfach verschoben. Und wegen der westlichen Sanktionen braucht das Land neue Korridore für den Transit, für Waren, zur Vermeidung von diesen Strafmaßnahmen“, sagte Meister.

Russlands Interessen im Zusammenhang mit dem Korridor seien im Moment gleich denen Aserbaidschans. „Auch Moskau will diesen Korridor haben. Es ist auch sehr daran interessiert, ihn nutzen zu können“. Russland wäre laut Stefan Meister sehr wahrscheinlich bereit, seinen früheren Partner (Armenien) „aufzugeben“, um den Bereich im Zusammenspiel mit Aserbaidschan zu bekommen.

Wie könnte dies realisiert werden? So wie sich die russischen Friedenstruppen jetzt aus Berg-Karabach zurückgezogen haben, um den Aserbaidshandern die Vorherrschaft zu überlassen, könnte Meister zufolge dasselbe beim Sangesur-Korridor passieren.

Selbst wenn Russland die Ambitionen Aserbaidschans nicht unterstütze, könnte dies ein guter Zeitpunkt für weitere Angriffe sein. Denn der Konflikt in der Ukraine bindet die russischen militärischen Kräfte erheblich und Russland erscheint geschwächt.

Wie lange schweigt der Westen?

Für den Westen sei die Situation besonders zwiespältig und delikat. Der Westen pflege laut dem Senior-Analysten Gábor Stier zufolge gute Beziehungen zu beiden Seiten: „Armenien hat aufgrund seiner erheblichen Diaspora eine starke Unterstützungsbasis in den USA und in Frankreich. Aserbaidschan hingegen hat sich auf den westlichen Märkten zu einem großen Waffenkäufer entwickelt.“

Außerdem sei die aktuelle Lage auch wegen der Energiekrise heikel. Das habe die Rolle Aserbaidschans noch wichtiger gemacht. Momentan stehe der Westen „unter starkem Druck“, so der Experte. Denn: „Man kann nicht zwei Flaggen der Solidarität aufziehen.“

Angesichts weiterer Konflikte stellt sich jedoch die Frage, wie lange der Westen es sich leisten kann, sich herauszuhalten.

In der Zwischenzeit verschärft auch die Frage der armenischen Flüchtlinge die Lage. Unklar ist, was Armenien mit diesen 120.000 Flüchtlingen macht, die nun ankommen könnten.

„In Hinblick auf die derzeitige Lage der armenischen Wirtschaft wird es eine schwere Last sein, die Flüchtlinge zu versorgen“, sagt Stier. Der Experte glaubt, dass die armenischen Behörden daher versuchen werden, die Verantwortung vollständig auf Russland als „schlechte Friedenswächter“ abzuwälzen. Dies könnte die Spannungen in der Region weiter verschärfen.

Der armenische Premierminister Nikol Paschinja äußerte sich in Hinblick auf die Flüchtlinge mit einem gewissen Optimismus. In einer Erklärung vom 25. September wies er darauf hin, dass der UN-Sicherheitsrat die Rückkehr der Einwohner von Berg-Karabach in ihre Heimat unterstützen werde.

Das Ziel sei in erster Linie, „sicherzustellen, dass sie in ihren Häusern ohne Angst, in Sicherheit und Würde leben können“. Der Präsident sagte auch, dass die Gespräche mit den Partnern in Berg-Karabach gut vorankämen. „Die Situation bleibt jedoch dynamisch und kann sich ändern“, fügte er hinzu.



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