Trotz internationaler Übereinkunft: Steinmeier will USA „nicht in den Arm fallen“

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat Verständnis für die Pläne von US-Präsident Joe Biden gezeigt, der Ukraine Streumunition zu liefern. Vor 15 Jahren hatte Steinmeier selbst die internationale Ächtung und das Verbot solcher Waffen unterzeichnet.
«Für mich ist klar: Es geht um viel mehr als nur darum, Ziele zu beschwören»: Frank-Walter Steinmeier.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (Archivbild) bekannte sich einst zur Ächtung und dem Verbot von Streumunition. Den USA will er aber nicht „in den Arm fallen“.Foto: Britta Pedersen/dpa
Von 10. Juli 2023

„Es ist maßgeblich dem nachdrücklichen Engagement der SPD-Bundestagsfraktion zu verdanken, dass sich die Bundesregierung der internationalen Initiative zu einem bedingungslosen Verbot von Streumunition angeschlossen hat.“ Dieser Satz ist nun ziemlich genau 14 Jahre alt.

Er stand am Anfang des dritten Absatzes einer außen- und sicherheitspolitischen Bilanz, die die SPD-Bundestagsfraktion am 21. Juli 2009 veröffentlicht hatte. Damals konnte der Text auch als Werbung für die Sozialdemokraten verstanden werden: Die wollten sich mitten im Wahlkampf selbstverständlich von ihrer besten Seite zeigen. Zwei Monate später stand die Wahl eines neuen Bundestages an.

SPD 2009: „Frieden, Verständigung, Dialog und zivile Konfliktregelung“

Gleichermaßen als Zugpferd und Beleg der friedliebenden SPD-Außenpolitik mit dem „bedingungslosen Verbot“ von Streumunition diente damals Frank-Walter Steinmeier. Der hatte am 21. November 2007 mitten in der Legislatur Franz Müntefering als Chef im Auswärtigen Amt und Stellvertreter von Kanzlerin Angela Merkel abgelöst.

Mit Steinmeier an der Spitze, so die SPD-Fraktion im Juli 2009, hätten „Regierung, Fraktion und Partei eine Außenpolitik betrieben, die die sozialdemokratischen Grundsätze von Frieden, Verständigung, Dialog und ziviler Konfliktregelung in konkretes Handeln umgesetzt“ habe. In der Tat hatte Steinmeier das internationale Abkommen von Oslo zur bedingungslosen Ächtung jeglicher Streumunition im Dezember 2008 eigenhändig unterschrieben.

Und heute?

Heute ist Steinmeier bekanntlich Bundespräsident. Und heute sind die „sozialdemokratischen Grundsätze von Frieden, Verständigung, Dialog und ziviler Konfliktregelung“ des Jahres 2009 im Rahmen der „Zeitenwende“ unter Kanzler Olaf Scholz offensichtlich anderen Werten gewichen. Im ZDF-Sommerinterview vom 9. Juli 2023 verteidigte das deutsche Staatsoberhaupt Steinmeier die Ankündigungen von US-Präsident Joe Biden, der Ukraine Streumunition zur Verfügung stellen zu wollen.

Die Bundesregierung, so Steinmeier im Gespräch mit ZDF-Redakteurin Bettina Schausten, könne „in der gegenwärtigen Situation der USA [sic] nicht in den Arm fallen“, auch wenn er selbst „die deutsche Position […] nach wie vor richtig“ finde, „sich gegen Streumunition auszusprechen“. Er selbst sei in dieser Frage „befangen“.

Steinmeier: „Klar, dass wir an der Seite des Opfers zu stehen haben“

Wie beide Standpunkte in Einklang zu bringen seien, verriet Steinmeier nicht. Stattdessen bekräftigte er die Loyalität zur Ukraine: „Es ist keine Frage, an welcher Seite wir in diesem Krieg stehen.“ Es sei „selten so klar wie hier, wer Täter, wer Opfer ist und dass wir an der Seite des Opfers zu stehen haben“.

Mit keinem Wort ging Steinmeier im ZDF-Sommerinterview auf die NATO-Osterweiterung in den Jahrzehnten seit dem Mauerfall, auf das „Minsker Friedensabkommen“ oder auf den bewaffneten Kampf Kiews gegen die Menschen im mehrheitlich prorussischen Donbass schon in den acht Jahren vor dem 24. Februar 2022 ein.

Stattdessen schob er die alleinige Verantwortung in Richtung Moskau: Der Krieg könne „morgen zu Ende sein, wenn Russland seine Soldaten zurückschickt“. Steinmeier weiter: „Wenn die Ukraine ihre Verteidigung einstellt oder wir dafür sorgen, dass sie nicht mehr verteidigungsfähig sind, dann wird das das Ende der Ukraine sein.“

Für „Aufarbeitung“ der deutschen Russland-Politik offen

Er habe „überhaupt nichts dagegen“, wenn es zu einer „Aufarbeitung“ der einst guten Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Russland in einem Untersuchungsausschuss kommen würde, meinte Steinmeier. „Manches würde sich bei dieser Aufarbeitung auch korrigieren“, nämlich „der Eindruck, als ob das irgendwie eine Art von Naivität oder gar Liebesdienerei gegenüber Russland gewesen sei. Das Gegenteil ist doch der Fall.“

Der Bundespräsident verwies auf die „Schlussakte von Helsinki“ aus dem Jahr 1975. Nicht nur „wir, auch die Amerikaner und viele andere“ hätten damit „versucht, in Europa so etwas zu schaffen wie eine Sicherheitsarchitektur unter der Einbeziehung Russlands. Das hat nicht funktioniert am Ende.“ Daraus müssten „wir“ nun „unsere Schlüsse für die Zukunft ziehen“.

Seit einem ersten Anlauf 1954 hatte Russland immer wieder versucht, selbst Teil der NATO zu werden. Michail Gorbatschow und Boris Jelzin bekundeten in den frühen 1990er-Jahren erneut ein langfristiges Interesse daran. Auch Wladimir Putin habe schon 2000 ähnliche Ziele verfolgt, schreibt der österreichische „Kurier“. Nach Informationen des Onlineportals „DebatingEurope.org“ aber habe „der Westen“ das Ansinnen „nie wirklich ernst genommen“. Nach der russischen Eroberung der Krim im Frühjahr 2014 war dann nicht mehr die Rede davon.

Steinmeier rechnet mit „immensen Ausgaben“ für Verteidigung

„Bedauerlicherweise“, so Steinmeier, werde die „Sicherheit in der Zukunft Europas nicht mehr eine gemeinsame Sicherheit mit Russland sein, sondern wir werden uns voreinander schützen mit immensen Ausgaben für unsere Verteidigungshaushalte“. Es gelte, einen „besseren Schutz für Europa, für die Allianz und besseren Schutz für unsere eigene Bevölkerung in Deutschland zu organisieren“.

Bestrebungen nach einem Waffenstillstand in der Ukraine erteilte Steinmeier eine Absage. Er könne momentan keine „Bedingungen“ erkennen, unter denen er sich das vorstellen könne. Ein Waffenstillstand „zum jetzigen Zeitpunkt“ würde aus seiner Sicht bedeuten, dass man „den Landraub, den Russland in der Ukraine betreibt, […] belohnt“. „Wir“ müssten „Verständnis dafür haben, dass […] die Ukraine die russischen Truppen zurückzukämpfen“ versuche, solange Russland seine Truppen nicht zurückziehe.

„Oslo-Übereinkommen“: Verbot und Ächtung für Streumunition

Neben Frank-Walter Steinmeier hatten Abgesandte aus 109 weiteren Staaten Anfang Dezember 2008 das „Oslo-Übereinkommen“ unterzeichnet. Die Fraktion der Grünen im Bundestag hatte sich zuvor besonders stark dafür gemacht (BT-Drucksache 16/8909, PDF).

Es handelt sich nach Angaben des deutschen Außenministeriums um einen „völkerrechtliche[n] Vertrag zum Verbot des Einsatzes, der Entwicklung, der Herstellung, des Erwerbs, der Lagerung, der Zurückbehaltung und der Weitergabe von Streumunition“. Am 8. Juli 2009 habe Deutschland „als elftes Land […] seine Ratifikationsurkunde hinterlegt“. International sei das Übereinkommen am 1. August 2010 in Kraft getreten.

„Weitere 13 Staaten haben das Übereinkommen unterzeichnet, aber noch nicht ratifiziert“, stellte das Auswärtige Amt mit Stand 15. Juli 2021 klar. „Über die Vertragsstaaten hinaus haben sich 37 Staaten mit der Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen – Resolution 75/62 – im Dezember 2020 zur Wichtigkeit des Übereinkommens und seiner humanitären Zielstellungen bekannt. […] Die Bundesregierung setzt sich weiterhin für die Universalisierung des Übereinkommens ein“, so das Auswärtige Amt.

Dieser Aufforderung bis heute nicht gefolgt sind nach Informationen der „Weltwoche“ beispielsweise die USA, Russland, China, Iran, Nordkorea und Israel. Laut „Zeit“ war auch die Ukraine dem Übereinkommen nie beigetreten. Der heutige NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, damals Ministerpräsident Norwegens, habe sein Land laut „Weltwoche“ allerdings seinerzeit zu dem Abkommen verpflichtet.

Biden sagt Streumunition zu – Widerstand aus eigenen Reihen

Nach Informationen der „Zeit“ hatten die Vereinigten Staaten von Amerika vor wenigen Tagen versprochen, der Ukraine Streumunition zu liefern. Dafür hatte es auch Gegenwind von Parteikollegen im US-Kongress gegeben.

In einem CNN-Interview vom 9. Juli sprach Präsident Joe Biden von einer „schwierigen Entscheidung“. Es habe „eine Weile gedauert“, bis er sich vom Verteidigungsministerium davon habe überzeugen lassen. Jake Sullivan, der nationale Sicherheitsberater der USA, habe von einem „geringeren Übel“ gesprochen, so Biden. Er selbst betrachte den Schritt aber nur als „eine vorübergehende Lösung, um die russischen Panzer aufzuhalten“. Er sei überzeugt, dass dies notwendig sei, weil der Ukraine die Munition ausgehe.

Für eine Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO sehe er die Ukraine allerdings noch nicht bereit. Bevor das Bündnis erwägen könne, Kiew aufzunehmen, müsse „Russlands Krieg“ in der Ukraine beendet werden. All das werde auch Thema beim bevorstehenden NATO-Gipfel in Vilnius (Litauen) sein.

Stichwort Streumunition: Blindgängergefahr

Bei Streumunition handelt es sich um größere Fluggeschosse, die nach einem ähnlichen Prinzip wie Silvester-Feuerwerksraketen oder Schrotkartuschen funktionieren. Im Inneren der Geschosse verstecken sich „kleinere Sprengkörper – sogenannte Submunition – mit jeweils weniger als zwanzig Kilogramm Gewicht“, schreibt das Auswärtige Amt. Im Anflug auf ein Ziel werde die Sprengkörperladung freigesetzt, sodass der kleinteilige Inhalt Zerstörungen auf einer relativ großen Fläche anrichten könne.

„Gefährlich ist Streumunition vor allem deshalb, da ein erheblicher Prozentsatz der Submunitionen nicht detoniert, sondern als Blindgänger vor Ort verbleibt und die Bevölkerung gefährdet“, erklärt das Auswärtige Amt. Es bestehe die Gefahr einer Verwechslung, insbesondere mit Spielzeug. „Dadurch bringt Streumunition besonders die Zivilbevölkerung in Gefahr, nicht nur während des Einsatzes, sondern noch lange nach Beendigung eines militärischen Konflikts.“



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