9-Euro-Ticket: Es ist alles auf der Schiene, was fahren kann

Nicht nur Passagiere der Bahn ächzten zu Pfingsten in ihren Regionalzügen. Auch der Güterverkehr hat ein Problem. Netz und Anlagen seien am Limit, sagen Eisenbahner.
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Warten auf den Zug im Berliner Hauptbahnhof. Viele Strecken waren völlig überfüllt.Foto: Sean Gallup/Getty Images
Von 11. Juni 2022

Was passiert, wenn am Bahnsteig 300 statt der sonst üblichen 50 Menschen stehen, die in einen Regionalzug einsteigen wollen? Der Zug bekommt etwas Verspätung. An der nächsten Haltestelle kann sich das wiederholen. Noch ein paar Städte weiter ist schließlich das Chaos perfekt.

„Es genügt ja der Flügelschlag eines Schmetterlings, um ein paar 100 Kilometer weiter große Verspätungen und Verstopfungen auszulösen“, erklärt ein Bahn-Insider zu den Gefahren des 9-Euro-Tickets. Nennen wir ihn Herr Schmidt, denn aus Gründen von Repressalien innerhalb der Bahn möchte er lieber anonym bleiben.

Entlastungszüge? Fehlanzeige

Was sagt Herr Schmidt zum neuen Ticket? Er zieht einen Vergleich zur Schweiz und Österreich: Die Schweiz stelle, wenn sie mit einem Massenansturm rechne, Entlastungszüge bereit. Doch die Deutsche Bahn fahre an ihrer Belastungsgrenze. Eine Möglichkeit zur Entlastung gebe es nicht, es sei alles ausgereizt. Es würde alles auf die Schiene gebracht, was fahren kann. In Österreich koste ein Klimaticket übrigens 1.095 Euro, ermäßigt 821 Euro. Es gilt für ein Jahr regional, überregional und österreichweit in allen öffentlichen Verkehrsmitteln. 

Das deutsche 9-Euro-Ticket sei „als eine politische und finanzielle Vergünstigung gedacht, weil der Unmut in der Bevölkerung über die Inflation zulasten der kleinen Einkommen riesig ist“, erklärt er. Doch so was könne man nur machen, „wenn man auch die Kapazitäten ausbaut“.

Problematisch werde es, wenn man in einem verstopften Zug sitzt oder steht und der Schaffner sage, nun komme niemand mehr rein. „Wenn die Leute nicht wieder rausgehen, die als Letztes eingestiegen sind, bleibt der Zug stehen.“ So geschehen zu Pfingsten in einem RE5 Berlin/Gesundbrunnen-Rostock, der aus diesem Grund eine Stunde länger im Bahnhof stand. Die Bundespolizei war im Einsatz.

„Schlecht, aber wenigstens günstig“?

Ungewöhnlich offen räumte Bahn-Chef Richard Lutz Anfang Juni ein: „Wir stehen vor einer Zäsur. So wie bisher geht es nicht weiter.“ Er kündigte eine „Generalsanierung“ an und legte praktisch einen Offenbarungseid ab. Die Bahn funktioniere nicht mehr.

Das Problem sei ein politisches und hausgemacht, niemand gehe die tatsächlichen Ursachen an, sagen Eisenbahner. Die Bahn wurde seit der Privatisierung in den 1990er-Jahren heruntergewirtschaftet, das Netz zusammengestrichen. Gleise stillgelegt, Bahnhöfe verkauft. 

Volker Wissing, Verkehrsminister, fragt: „Wer traut sich, die notwendigen Sanierungs- und Modernisierungsmaßnahmen in Angriff zu nehmen?“ Doch, er traue sich. „Wir müssen aus der überlasteten Infrastruktur ein Hochleistungsnetz machen“, gibt Bahn-Chef Lutz vor. Bis 2030 plant das Verkehrsministerium nun erneut eine „Generalsanierung“. Erneut, denn vor fünf Jahren wurde schon einmal eine Kehrtwende gefordert. Passiert ist nichts.

Das wird Folgen haben. „Die Bahnverkehrsunternehmen und die Kunden werden durch ein Tal der Tränen gehen“, warnt der Vorsitzende der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft, Klaus-Dieter Hommel. „Es wird Jahre dauern, bis es besser wird.“ Aber die Kunden würden das honorieren, weil die Situation auf der Straße auch nicht besser sei und sie umweltbewusst seien.

Auch die Lage im Güterverkehr ist miserabel

Langjährigen Bahnkunden aus der Industrie ist das nichts Neues. Disponenten müssen ganze Gütertransporte absagen, weil die Kapazitäten fehlen, sowohl im Bahnnetz als auch bei den Fahrzeugen. „Einige Industriebetriebe wissen nicht mehr, wie sie ihre Produkte abfahren sollen“, erklärt unser langjähriger Eisenbahner in diesem Zusammenhang.

Güterverkehr ist dem Personenverkehr untergeordnet und der Letzte in der Warteschlange. Die Fernzüge haben Vorrang, dann die Regionalzüge. Erst anschließend kann der Güterverkehr die Gleise nutzen. Viele Gleise waren schon vor dem 9-Euro-Ticket völlig überbelegt, die Taktfrequenzen können aus technischen Gründen nicht beliebig weiter verkürzt werden.

Ein Beispiel: Die neuralgische Strecke zwischen Frankfurt und Mannheim ist zu 125 Prozent ausgelastet. Bei Bauarbeiten auch schon mal zu 150 Prozent. Bundesweit gibt es mindestens acht solcher Engpässe – um Hamburg, Frankfurt, Stuttgart, München, Dortmund-Köln, Würzburg-Nürnberg, das Mittelrheintal und der Oberrhein.

Am 20. Mai mussten 309 Züge bei der Frachttochter der Deutschen Bahn, DB Cargo, unfreiwillig parken, am 30. Mai blieben 400 Züge im Depot. Ursache sind Bauarbeiten auf den zentralen Korridoren vom Rhein bis zu den Alpen und anderen europäischen Strecken. Es wird in diesem Jahr monatelange Unterbrechungen geben, wurde den Industriekunden wie BASF, Bayer, DHL, Thyssen-Krupp und Volkswagen gesagt. „Deren Disponenten hätten getobt“, zitiert das „Handelsblatt“ einen anderen Insider. „Das Netz ist kollabiert“, sagt ein anderer. Wer kann, wechselt auf die Straße und setzt auf Lkw. 300 Züge entspricht je nach Zuglänge bis zu 15.000 Lkw.

„Aus der Pleitebahn der Beamten ist die Chaosbahn der Kaufleute geworden“, bilanzierten auch andere Bahner hinter vorgehaltener Hand. Die schrumpfende Zahl an technischem Personal müsse immer mehr leisten und werde gleichzeitig dabei von einem immer größeren Verwaltungsheer überwacht. An der Spitze stünden Kaufleute; echte Eisenbahner mit tiefem Verständnis für die technisch-betrieblichen Zusammenhänge seien „da oben“ zur Rarität geworden. 

Die Politisierung sei auf Kosten der Professionalität der Bahn gegangen, die Bahn habe massiv abgewirtschaftet. Netz und Anlagen seien am Limit, ohne Runderneuerung blieben die Vorhaben der Politik und der Bahnführung eine Illusion. Der Gesellschaft solle klar gesagt werden, dass Güter- und Passagierverkehr getrennte Gleise benötigen, ebenso braucht man eigene Hochgeschwindigkeitstrassen. 

Kommt eine Fortführung des 9-Euro-Tickets?

Ob das Ticket nach den drei Monaten weitergeführt wird? Die Eisenbahner, mit denen die Epoch Times sprach, zweifeln nicht daran. „Der politische Druck dazu wird da sein“, doch wie es umgesetzt werden kann, sei fraglich. „Die Bahn ist ein Staatskonzern, sie macht, was ihr befohlen wird.“ Daher werde es eine Nachfolge-Lösung geben. 

Erste Forderungen vom Städte- und Gemeindebund werden bereits laut. Hauptgeschäftsführer Gerd Landsberg sprach sich für ein bundesweit unbegrenzt gültiges ÖPNV-Billigticket aus. Ähnlich der Bundesverband der Verbraucherzentralen: Arbeitgeber, Einzelhändler oder Private, deren Immobilien etwa durch einen guten ÖPNV-Anschluss an Wert gewinnen, sollten für die Finanzierung herangezogen werden und sich beteiligen.

Regionalverkehr ist Ländersache

Regionalverkehr, wie ihn das 9-Euro-Ticket nutzt, ist Ländersache, die Bundesländer sind zuständig. Die erste Rechnung der Bahnunternehmen geht an die Bundesländer, weil sie den Regionalverkehr bestellen. Teilweise bekommen sie ihre Ausgaben durch die Fahrkarten zurück. 

„Ob die 2,5 Milliarden Euro ausreichen, die die Bundesregierung dafür zugibt, weiß keiner. Die Bundesländer befürchten, dass sie anschließend auf dem Schlamassel sitzen bleiben“, sagt der Bahner. Zumindest ist klar: Von den Einnahmen des 9-Euro-Tickets könne man keine Bahn instand halten und erneuern.

Welchen Erfolg die Werbeaktion hat? „Gut möglich, dass das billige 9-Euro-Ticket für die Politik ein äußerst eleganter Weg sein könnte, die Deutschen behutsam auf eine andere Strategie für die Verkehrswende einzustellen“, unkte die „FAZ“. Das Motto der Bahn könne angesichts der gravierenden Probleme der Bahn zukünftig „schlecht, aber wenigstens günstig“ lauten.

Vielleicht ist das Ticket nur der Test dafür, was geschehen könnte, wenn der Fernverkehr aufgrund der Großbaustellen ausfällt und lediglich der Regionalverkehr zur Verfügung steht. Laut dem Bahn-Chef soll in großem Stil gebaut werden: „Lieber eine große statt vieler kleiner Sperrungen.“ Zum Hochleistungsnetz ausgebaut werden sollen – auch mit längeren Sperrzeiten – der Knoten Hamburg (bis Hannover), die Verbindungen Dortmund-Duisburg-Düsseldorf-Köln, das Mittelrheintal, der Knoten Frankfurt, der Knoten Stuttgart, die Strecken Mannheim-Karlsruhe-Basel sowie Würzburg-Nürnberg und der Knoten München.



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