Frühwarnsystem des Sozialstaates schlägt Alarm

Vier Jahre ist es her, seit das Bundesfinanzministerium seinen letzten Tragfähigkeitsbericht veröffentlicht hat. Vom damaligen optimistischen Grundton ist nicht mehr viel übrig. Demografie und Sozialausgaben könnten die Schulden des Bundes bis 2070 auf bis zu 345 Prozent des BIP ansteigen lassen.
Christian Lindner: «Wir machen uns auf den Weg zur finanzpolitischen Normalität.»
Im Haus von Bundesfinanzminister Lindner (FDP) versteht man den Tragfähigkeitsbericht als Appell für tiefgreifende strukturelle Reformen.Foto: Michael Kappeler/dpa
Von 14. März 2024

Am 11. März 2020, kurz vor Verhängung des ersten Corona-Lockdowns, hat das Bundesfinanzministerium seinen letzten sogenannten Tragfähigkeitsbericht vorgelegt. Der zuständige Minister war damals Olaf Scholz. Der Bericht erscheint im Regelfall einmal pro Legislaturperiode. Er soll Auskunft über die langfristige Entwicklung der öffentlichen Finanzen geben – und erforderlichenfalls als eine Art Frühwarnsystem dienen.

Scholz ist heute Bundeskanzler. Sein Nachfolger im Amt, Christian Lindner, wird am 20. März den sechsten Bericht dieser Art präsentieren. Strotzte dieser 2020 noch geradezu vor Optimismus, hat sich die Grundstimmung im bevorstehenden Bericht zur Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen merklich eingetrübt. Dies geht aus einem Bericht der „Deutschen Presse-Agentur“ (dpa) hervor, der dieser bereits vorliegt.

Tragfähigkeitsbericht 2020 sprach noch von „soliden Finanzen“

Vor vier Jahren hieß es einleitend vonseiten des Ministeriums, Staatsfinanzen und soziale Sicherungssysteme „sind auf lange Sicht deutlich besser aufgestellt als noch vor wenigen Jahren“. Die Bundesregierung lobte sich in weiterer Folge selbst für ihre Finanzpolitik.

Diese rechne sich, denn sie setze „auf solide Finanzen, Investitionen in Rekordhöhe, die Stärkung der verfügbaren Einkommen und auf mehr sozialen Zusammenhalt“. Der Schuldenstand der öffentlichen Haushalte hatte die 60-Prozent-Marke unterschritten, dazu kam eine Niedrigzinspolitik.

Bereits damals war jedoch die Rede von möglichen Mitteln in Höhe von bis zu 4,1 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP), die bis 2060 fehlen könnten. Im Fall einer günstigeren Entwicklung wären es prognostizierte 1,49 Prozent. Je nach Szenario liege der jährliche Konsolidierungsbedarf zwischen zehn und 30 Milliarden Euro.

Der Bericht stammt aus einer Zeit mit anhaltendem Wirtschaftswachstum, Rekordbeschäftigung und Haushaltsüberschüssen. Die vorbereitenden Modellrechnungen dazu hatte das Ministerium beim ifo-Institut in München und der Ruhr-Universität Bochum in Auftrag gegeben. Diese hypothetischen Berechnungen gehen jeweils von einem politischen Status quo aus. Externe Ereignisse wie Pandemie, Krieg oder Klimawandel bleiben unberücksichtigt.

Experten raten dringend zu Beibehaltung der Schuldenbremse

Mittlerweile haben Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg und Energiekrise ihre Spuren hinterlassen – und auch die demografischen Aussichten haben sich nicht entscheidend verbessert. Dies wird sich entsprechend auch im bevorstehenden Tragfähigkeitsbericht niederschlagen. Das Ministerium von Christian Lindner macht sich insbesondere aufgrund der fortschreitenden Überalterung Sorgen.

Während heute bereits jeder fünfte Einwohner in Deutschland älter als 66 Jahre sei, werde es im Jahr 2070 jeder dritte sein. Mit dieser Einschätzung steht das Ministerium nicht allein. Erst vor wenigen Wochen hatte Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger vor einem Kollaps des Rentensystems gewarnt. Als besonders beunruhigend erscheint dabei, dass nicht einmal ein anhaltend hohes Maß an Zuwanderung auf Dauer das demografische Ungleichgewicht ausgleichen könne.

Entsprechend fallen die Prognosen in den Modellrechnungen für den Tragfähigkeitsbericht noch drastischer aus. Im günstigeren Szenario werde die „Tragfähigkeitslücke“ bei den Staatsfinanzen 1,6 Prozent der Wirtschaftsleistung betragen. Dies würde einen Konsolidierungsbedarf im Umfang von 66 Milliarden Euro bedingen, um die Maastricht-Quote von 60 Prozent zu wahren.

Im ungünstigeren Fall wären es jedoch 4,7 Prozent und etwa 194 Milliarden Euro, die der Bund einsparen oder zusätzlich einnehmen müsste. Der Bericht nimmt auch zu der Frage Stellung, wie sich eine Aufweichung oder Aufhebung der Schuldenbremse auswirken würde. In diesem Fall geht er sogar von einem möglichen Schuldenstand zwischen 140 und 345 Prozent des BIP im Jahr 2070 aus.

Warnungen von Verbänden finden sich im Tragfähigkeitsbericht bestätigt

Der Tragfähigkeitsbericht bestätigt in seiner Tendenz offenbar auch jüngste Warnungen des Verbandes „Die jungen Unternehmer“ vor einem Kollaps des Sozialstaats. Ihnen zufolge drohten aufgrund steigender Ausgaben im Renten- und Gesundheitsbereich Sozialbeiträge von bis zu 50 Prozent des Bruttolohnes bis zum Jahr 2050. Dies könnte die Bereitschaft zur Aufnahme legaler Arbeit lähmen, so der Verband.

Der bevorstehende Bericht des Bundesfinanzministeriums macht ebenfalls darauf aufmerksam, dass weniger aktive Erwerbstätige Steuern und Sozialbeiträge ansteigen ließen. Gleichzeitig stiegen die Leistungen für Rente, Gesundheit, Pflege und Familie. Derzeit lägen diese bei 27,3 Prozent der Wirtschaftsleistung. Perspektivisch würden sie – je nach Günstigkeit des Szenarios – auf 30,8 oder aber auf bis zu 36,1 Prozent steigen.

Lindner mahnt bereits seit Längerem zu tiefgreifenden Reformen. Die Ergebnisse des Tragfähigkeitsberichts bringen zusätzliche Brisanz in die Debatte um die Finanzierung der gesetzlichen Rente oder eine Anpassung des Renteneintrittsalters. Der Minister setzt auf eine – darlehensfinanzierte – sogenannte Aktienrente, um die Bundeszuschüsse zur Rentenkasse langfristig abzustützen. Zudem will er Lebensarbeitszeit und Fachkräftezuwanderung erhöhen.

Impulse erhofft er sich auch von einer „Wirtschaftswende“ hin zu mehr Wachstum. Dafür hatte er jüngst auch ein Sofortprogramm angekündigt. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hat grundsätzlich seine Bereitschaft anklingen lassen, ein solches Impulsprogramm mitzutragen. Das bis dato ungelöste Problem daran: Die jeweiligen Vorstellungen über mögliche Wege zur Finanzierung liegen unverändert deutlich auseinander.



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