„Brückenstrompreis jetzt!“: Chemieindustrie setzt Frist bis Freitag

„Wir brauchen jetzt einen Brückenstrompreis, um Standorte und Arbeitsplätze zu retten“, heißt es in einem gemeinsamen Brandbrief von Verbands- und Gewerkschaftsvertretern der Chemiebranche an die Politik. Sie wollen eine Zusage dafür schon am Freitag hören.
Der Verband der Chemischen Industrie warnt: Wenn es bezüglich eines Industriestrompreises keine kurzfristigen Lösungen gebe, müsse man sich über zukünftige Themen keine Gedanken mehr machen.
Der Verband der Chemischen Industrie (VCI) verlangt einen subventionierten Industriestrompreis, damit die Branche international überleben kann.Foto: Jan Woitas/dpa
Von 17. Oktober 2023

Die deutsche Chemieindustrie scheint gerade die Geduld mit der Ampelregierung in Berlin zu verlieren: Spitzenvertreter der Branche haben einen gemeinsamen „Brandbrief“ verfasst, in dem sie alle Bundestagsabgeordneten, mit Ausnahme der AfD-Mitglieder, bitten, sich für niedrigere Strompreise zugunsten ihrer energieintensiven Branche einzusetzen. Das berichtet unter anderem die „Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ (WAZ) in ihrer Montagsausgabe. Auch die Ministerpräsidenten seien in einem Extra-Anschreiben kontaktiert worden.

Koalitionsausschuss soll Entscheidung bringen

Der Verband der Chemischen Industrie (VCI), der Bundesarbeitgeberverband Chemie (BAVC) und die Gewerkschaft IGBCE setzen den Politikern demnach eine Frist bis zum Freitag, 20. Oktober – dem Tag, an dem der Koalitionsausschuss tagt.

„Hier muss die Frage entschieden werden, ob die Industrie mit einem kurzfristigen Energiepaket rechnen kann“, heißt es in dem gemeinsamen Papier mit dem Titel „Entscheiden Sie JETZT über die Zukunft der chemischen Industrie“ (PDF).

Wir brauchen jetzt einen Brückenstrompreis, um Standorte und Arbeitsplätze zu retten.“

Der Koalitionsausschuss solle dafür sorgen, dass noch in diesem Jahr ein „Gesetzgebungspaket“ auf den Weg gebracht und beschlossen werde, damit es zum 1. Januar 2024 in Kraft treten könne. „Als wichtigstes Element“ soll das Paket einen „zeitlich begrenzten Brückenstrompreis“ enthalten. Außerdem müssten die Stromsteuer gesenkt und der Spitzenausgleich erhalten werden.

IGBCE will Preis „auf Augenhöhe mit denen anderer Weltregionen“

Insgesamt müsse der „Strompreis so lange“ gesenkt werden, „bis das Energieangebot entsprechend ausgebaut ist und es preissenkend wirken kann“, schreiben die Verbands- beziehungsweise Gewerkschaftsbosse Dr. Markus Steilemann (VCI), Dr. Kai Beckmann (BAVC) und Michael Vassiliadis (IGBCE). „Auch unsere mittelständischen Unternehmen müssen dieses Instrument nutzen können“, betonen die drei Funktionäre.

„Wenn aufgrund hoher Stromkosten Anlagen schließen und Produktion verlagert wird, ist das ein weiterer Schritt zur Schwächung der Industrie“, stellte der IGBCE-Vorsitzende Michael Vassiliadis fest, „Es braucht jetzt schnell und über die akute Energiekrise hinaus einen Brückenstrompreis, der sich auf Augenhöhe mit denen anderer Weltregionen bewegt.“

Industriestrompreis in knapp vier Jahren mehr als verdoppelt

Einen konkreten Höchstpreis für die Kilowattstunde (kWh) nennt allerdings keiner der drei Unterzeichner. In ihrem Schreiben sind stattdessen Grafiken eingebaut, die unter anderem einen Vergleich zu anderen Ländern erlauben.

Der Strompreis für industrielle Kunden in Deutschland habe sich demnach vom zweiten Halbjahr 2019 bis zum ersten Halbjahr 2023 mehr als verdoppelt – von seinerzeit 7,7 Cent pro kWh auf nun 15,9 Cent. Zum Vergleich: In China würden heute nur 9,1 Cent, in Frankreich 7,7 Cent und in den USA sogar nur 4,4 Cent bezahlt. Der „Standort Deutschland“ sei somit „unbezahlbar“ geworden, die „Deindustrialisierung in vollem Gang“, beklagen die Verfasser des offenen Briefs.

550.000 Arbeitsplätze in Gefahr

Wie wertvoll und wichtig die „energieintensiven Industrien Chemie, Pharma, Glas, Metall und Papier“ generell für Deutschland seien, versuchen die Chemievertreter mit einer weiteren Grafik zu veranschaulichen: Sie schlüsselt die Steuer- und Abgabenleistungen der genannten Branchen auf. Insgesamt 46 Milliarden Euro, nämlich 25 Milliarden an verschiedenen Steuern und 21 Milliarden an Sozialabgaben, flössen, wie die Funktionäre betonen, „noch!“.

Bundesweit biete allein die Branche der chemischen Industrie rund 1900 Unternehmen 550.000 Arbeitsplätze.

Verbandsgeschäftsführer: „Die Hütte brennt lichterloh“

Im Gespräch mit der WAZ griff VCI-Hauptgeschäftsführer Wolfgang Große Entrup zu einem emotional aufgeladenen Bild: „Die Hütte brennt lichterloh“, so der Verbandsvertreter. Viele Unternehmen könnten „im internationalen Wettbewerb nicht mehr mithalten“. Wenn zum Jahreswechsel wie geplant der „Spitzenausgleich“ wegfalle, kämen außerdem „schon ab Januar Mehrkosten in Höhe von 1,7 Milliarden Euro jährlich“ auf die betroffenen Unternehmen zu.

Große Entrup hatte bereits anlässlich der Jahreskonferenz der Ministerpräsidenten in Frankfurt am Main vor wenigen Tagen „schnellere Planungs- und Genehmigungsverfahren“ vonseiten der Politik verlangt und seinem Unmut über die Gesamtlage freien Lauf gelassen:

Wir haben es satt, jeden Tag schlechte Nachrichten über unseren Wirtschaftsstandort zu hören. Deutschland kann sich Schwerfälligkeit und Endlos-Debatten nicht länger leisten. Mit jedem Tag spitzt sich die Lage unserer Unternehmen weiter zu. […] Transformation und Klimaschutz gehen nur mit den Leistungen der Chemie. Der volkswirtschaftliche Flurschaden wird ohne Ad-hoc-Maßnahmen noch in diesem Herbst tiefe Spuren hinterlassen. Das haben die Länder erkannt. Jetzt ist die Bundesregierung am Zug.“

BDI-Chef: Wenig Verständnis für Scholz

Auch Siegfried Russwurm, der Präsident des Industrieverbands BDI, hatte Ende September anlässlich des „Chemiegipfels“ im Kanzleramt klare Worte in Richtung Olaf Scholz gerichtet. „Das Licht an immer mehr deutschen Standorten wird buchstäblich ausgeschaltet“, zitiert ihn die WAZ. Die industrielle Produktion breche in Deutschland weg oder werde „ins Ausland verlagert“. Er sehe „wenig Anlass zur Zuversicht“, solange sich der Kanzler noch „gegen eine Entlastung stromintensiver Betriebe“ sperre. „Vieles macht uns in der Industrie erhebliche Sorgen. Einiges macht uns – offen gesagt – fassungslos“, so Russwurm.

Der Verdi-Gewerkschaftsboss Frank Werneke hält allerdings nichts von einem staatlich gedeckelten Industriestrompreis für ausgewählte Branchen, wie ihn ja nicht nur die Chemiesparte favorisiert, sondern auch SPD und Grüne: Das sei „sozialpolitisch nicht verantwortbar“, erklärte er vor gut einem Monat.

Streit um Industriestrom – Lösung nicht in Sicht

Schon seit Monaten herrscht Uneinigkeit innerhalb der Bundesregierung und ihrer „Ampelparteien“ zur Frage des Industriestrompreises. Die Länderchefs sind schon länger für eine solche Entlastung.

Die SPD-Fraktion im Bundestag würde Unternehmen aus bestimmten energieintensiven Branchen durchaus gerne ein „Fünf Cent für fünf Jahre“-Modell  ermöglichen. Zuletzt legte die Fraktion in den letzten Augusttagen einen „Sechs-Punkte-Plan“ vor, bei dem ein solcher Preis die zentrale Forderung darstellte.

Auch die Fraktion der Grünen würde Subventionen begrüßen: Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hatte vor einigen Monaten einen Deckel von sechs Cent pro Kilowattstunde für 80 Prozent des Stromverbrauchs vorgeschlagen. Er soll so lange gelten, bis Deutschland mehr Strom durch „erneuerbare“ Energien erzeugt. Im Gegenzug müssten sich die Unternehmen ganz im Sinne des Ampeltransformationskurses aber verpflichten, bis 2045 „klimaneutral“ zu sein, am Standort zu bleiben und sich an die Arbeitstarifverträge zu halten.

Lindner und Scholz strikt dagegen

Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) sieht angesichts der angespannten Haushaltslage aber keinen Spielraum. Außerdem halte er es „nicht für sinnvoll“, „dass wir für einige große Konzerne Subventionen zahlen, die am Ende dann die Bäckerei und der Mittelstand tragen müssen“, erklärte Lindner Ende August.

Aus seiner Sicht brauche Deutschland vielmehr einen schnelleren Zubau von Energieerzeugung, schnellere Planungs- und Genehmigungsverfahren sowie die Erleichterung von Strom-Partnerschaften zwischen Energieversorgern und Großverbrauchern.

Scholz sitzt als Kopf der Ampelregierung somit zwischen allen Stühlen. Obwohl er laut „Vorwärts“ noch im Bundestagswahlkampf 2021 selbst eine Zielmarke von maximal vier Cent/kWh ausgerufen hatte, vollzog er inzwischen eine Kehrtwende bei der Frage des Strompreises. Eine „Dauersubvention […] mit der Gießkanne“ lehne er ab, meinte der Kanzler Mitte August: „Das wäre ökonomisch falsch, fiskalisch unsolide und würde sicherlich auch falsche Anreize setzen“.

SPD-Chef Lars Klingbeil hofft darauf, den Kanzler doch noch umstimmen zu können. Als letzten Termin für eine Entscheidung nannte Klingbeil den 1. Dezember 2023: Dann entscheidet der Bundestag nach jetzigem Stand über den Haushalt des nächsten Jahres. „Bis dahin haben wir eine Gewissheit, ob der Industriestrompreis kommt“, sagte Klingbeil Ende August bei „RND vor Ort“ in Lüneburg.

Treffen des Koalitionsausschusses

Am Freitag, 20. Oktober, wollen sich Spitzenvertreter der Ampelkoalition zu internen Gesprächen treffen.

Zuletzt hatte sich der Koalitionsausschuss Ende März im Kanzleramt getroffen. Damals hatte es ebenfalls eine lange Liste von Streitfragen zwischen den Ampelkoalitionären gegeben. Am Ende einigte man sich nach Angaben der „Tagesschau“ auf mehr Flexibilität beim Klimaschutz, auf eine schnellere Planung bei Straßen und bei der Bahn und auf einen sozialen Ausgleich beim Heizen.



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